#Roman

Café Selig

Stefan Soder

// Rezension von Judith Leister

Vielleicht sollte man vor Universitäten Schilder aufstellen mit dem Slogan „Mind the gap!“ Der Hinweis, der in der Londoner U-Bahn Passagiere vor der Lücke zwischen Bahnsteig und Zug warnt, könnte auch manchen Studenten nützlich sein, die den Absprung von der Uni ins Berufsleben nicht wagen und sich im Nirwana zwischen Langzeitstudium mit unterqualifiziertem Brotjob einerseits und unrealistischen Zukunftsträumen andererseits verlieren.

Genauso einer ist Maximilian, der Ich-Erzähler in Stefan Soders Roman. In den seligen 1990er-Jahren tummelt er sich an der geisteswissenschaftlichen Fakultät einer Universitätsstadt. „Prüfungen hatten keine Eile. Es ging mir nicht um einen Abschluss, eine Ausbildung oder eine Zukunft …“, sagt Max und betont: „Ich würde Schriftsteller werden.“ Stets hat er deshalb Romane von „Albert“, „Ernest“ und „Graham“, wie er sie zutraulich nennt, im Rucksack. Noch bügelt Mutti seine Unterwäsche, da ergibt sich die Gelegenheit, mit dem Schreiben Geld zu verdienen, nämlich beim „Studierendenmagazin“. Ohne sein Zutun wird Max dort zum „Boss“ und muss weitere Mitarbeiter rekrutieren. Mit der gerechtigkeitsliebenden Politologin Elena und der attraktiven Publizistin Ulrike bildet er bald ein platonisches „Beziehungsdreieck“ mit linkem Profil. „Als leitender Chefredakteur des wichtigsten Studierendenmagazins an der zweitgrößten Universität des Landes fühlte ich mich erwachsen, als Macher.“

Zum ersten Mal in seinem Leben hat Max Macht – und spielt sie aus. Er lässt alle weiteren Bewerber auflaufen, bis der ungeschickt wirkende Jurastudent Hans Hase auftaucht. Der hat immerhin einen brauchbaren Artikel in der Tasche und fast gegen seinen Willen stellt Max ihn ein. Später sagt er: „Damals dachte ich, er wäre einfach gut darin, das zu machen, was man ihm auftrug. Heute weiß ich es besser.“ Bald sind Max‘ Tage beim Magazin allerdings gezählt. Leichtsinnigerweise hat er einen angeblich verharmlosenden Artikel über eine Burschenschaft mit „red.“ gezeichnet, obwohl er ihn nicht selbst geschrieben hat. Linke Gruppen fordern deshalb seinen Kopf. Für Max bricht eine Welt zusammen, auch weil die angebetete Ulrike sich plötzlich mit Hans verpaart hat. Max flieht in die Stadt, mit der Wien gemeint ist. Ulrike und Hans übernehmen die Leitung des Studimagazins.

Max wird zum Couchsurfer, spaziert durch Einkaufszentren, ernährt sich von Junkfood, wird von allen Bekannten schließlich rausgeworfen. Er hockt im abgewirtschafteten Café Selig herum, wo ihm der Wirt freundlicherweise eine Wohnung im Stockwerk darüber anbietet. Der lässige Patron heißt Lenz, was in diesem Fall nicht nur eine Anspielung auf Büchners unglücklichen Helden Jakob Michael Reinhold Lenz ist, sondern noch viel mehr ein Hint auf Peter Schneiders Erzählung „Lenz“ von 1973. Schneiders Hauptfigur Lenz ist ein junger Intellektueller im Berlin der 1960er-Jahre, der in linken Zirkeln verkehrt und für den seine eigene Peergroup immer zweifelhafter wird. Schneiders Buch wurde damals als Aufbruch in die „neue Innerlichkeit“ verstanden. Der Lenz in „Café Selig“ ist ein völlig unideologischer Mensch, letztlich der gute Geist in Max‘ Leben, wie sich auch ganz am Schluss noch einmal zeigen wird.

Nach und nach ziehen Elena, Hans und Ulrike ebenfalls nach Wien. Ulrike schreibt für eine renommierte Wochenzeitung, der alerte Hans macht dann in Brüssel als Politikberater Karriere, Elena wird bei einem angesehenen linksliberalen Blatt angestellt. Dem kaum schreibenden „Schriftsteller“ Max gegenüber legen sie einen seltsamen Respekt an den Tag, wohl, weil er an seiner Utopie, dem Schreiben, so konsequent festhält. Weil Max irgendwann seine Miete nicht mehr zahlen kann, bietet Lenz ihm an, im „Selig“ als Kellner zu arbeiten. Kurz huscht die Glücksspielerin Ingrid durch Max‘ Leben. Sie sorgt romantechnisch gesehen für Max‘ sexuelle Emanzipation, um sich bald darauf in Richtung großes Geld nach Las Vegas zu verabschieden.

Zehn Jahre nach Max‘ erstem Besuch im „Selig“ ist Elena stellvertretende Chefredakteurin des linken Blattes, Hans Spindoctor in einem Ministerium und Ulrike Anchorwoman im TV. Max behauptet, sein erster Roman käme bald, um in der Runde auch etwas zu berichten zu haben. Von allen Vieren bleibt sich die notorisch schlechtbezahlte Elena mit ihren investigativen Texten am ehesten treu. Hans hingegen entpuppt sich immer mehr als zwielichtiger Charakter. Im Politbetrieb bewegt er sich wie ein Fisch im Wasser, knüpft fleißig Netzwerke und will Politiker werden, „um endlich richtiges Geld zu verdienen“. Seine Dauerfreundin Ulrike betrügt er fleißig. Die fängt zwar eine Affäre mit Max an, kehrt aber immer wieder treu zu ihrem Alpha-Männchen zurück.

Seine Freunde ziehen, was die äußeren Erfolge betrifft, gnadenlos an Max vorbei. Er neidet sie ihnen nicht. Nicht einmal den Verrat kreidet er ihnen an. Es erzürnt ihn nur, dass Hans Ulrike betrügt. Max bleibt ein großes Fragezeichen, auch für sich selbst. Sein Leben ist Bricolage – es ist aus dem gemacht, was ihm zustößt, beziehungsweise aus dem Widerstand, den er sich bietenden, allzu wohlfeilen Gelegenheiten nach einiger Zeit dann doch wieder entgegensetzt. Zum Beispiel sitzt im „Selig“ eines Tages zufällig ein Songwriter, dem Max für Geld eine Zeitlang bei den Texten hilft, bis ihm die Schnulzen doch zu „reaktionär“ vorkommen. Dann wieder soll Max Hans als Sparringspartner für seine PR-Strategien dienen, was er erst mit den Worten „Ich bin nicht käuflich!“ ablehnt. Als Hans jedoch in Aussicht stellt, im Gegenzug Max‘ Erzählungen verlegen zu lassen, hilft er ihm doch, was aber auch zu keinem guten Ende führt.

Der Roman kippt völlig ins Fantastische, als Hans in den 2030er-Jahren Kanzler wird und im Zeichen der forcierten Digitalisierung eine künstliche Intelligenz namens Alba das ganze Land beherrscht. Es ist ausgerechnet Elena, die aufdeckt, dass Hans und seine Clique sich via Alba schamlos bereichert haben. Parallelen zur jüngsten österreichischen Geschichte und ihren Handy- und weiteren Affären dürften nicht zufällig sein.

Ganz am Schluss erbt Max von Lenz das Haus mit dem „Selig“. Das Café, zuerst eine mit Politplakaten zugekleisterte Spontibude, dann eine Zeitlang ein „Großraumbüro“ für Laptop-Hipster, fällt in seinen Dornröschenschlaf zurück. Max ist am Schluss nicht glücklich, nein, aber auch nicht mehr unglücklich, immerhin. Er hat Magdalena, sein kreatives Patenkind, und ein paar schöne eigenständige Songs geschrieben. Den Ruhm, das Geld, den Erfolg, nach dem andere viel gieriger gegriffen haben als er und auch nicht glücklicher wurden, lässt er links liegen. Man könnte sagen, er ist sich treu geblieben, schätzt, was ihm zuteilwurde, und trauert dem, was er nicht erreicht hat, nicht großartig nach. Vielleicht steckt in Max‘ sanftem Widerstreben gegenüber jeder Marktförmigkeit auch der Gedanke, dass Literatur nicht vereinnahmt und nicht in Geldwert berechnet werden darf. Oder so ähnlich. Wahrscheinlich schwebt das Café Selig, dieser Wartesaal des Lebens, noch immer irgendwo im Himmel der Literatur, mitsamt dem guten Gulasch, das man dort rund um die Uhr bestellen kann.

Stefan Soder Café Selig
Roman.
Wien: Braumüller, 2022.
260 S.; geb.
ISBN 978-3-99200-325-9.

Rezension vom 06.12.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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