Bus nach Bingöl

Richard Schuberth

// Rezension von Julius Handl

Holike ist eine fiktive Stadt mit sehr realen Problemen in der türkischen Region Dersim. Dort versucht der Wahlwiener Ahmet Arslan seine Kindheit wiederzufinden und scheitert an der Gegenwart. Richard Schuberth hat einen politischen Roman geschrieben, der die bestehenden Verhältnisse in der Türkei akribisch ausleuchtet.

Wir schreiben den Frühling 2008: Eine selbstkritische Kemalistin, ein suizidaler Deutscher, ein junger Soldat und Ahmet Arslan, Sozialarbeiter und Politologe, sitzen alle im selben Bus. Ihr Ziel ist Bingöl in der Türkei, diesem von verschiedensten Konflikten zerrütteten Land. Ahmet wird in Gespräche verwickelt, weil es einerseits genügend Zeit gibt auf der Fahrt von Wien aus, und andererseits weil es dem Roman gelegen kommt. Schuberth entfaltet in diesen Gesprächen unterschiedliche Biographien, sie bilden einen Spiegel der türkischen Gesellschaft. Die junge Kemalistin Dilek zum Beispiel erzählt von ihrer Ablehnung der Werte ihres reichen Elternhauses; die Linke, so Dilek, hätte mit ihrer Kritik ja eh recht. Im Bus lernen wir die Konfliktlinien der Türkei kennen, an welchen sich der Roman abarbeitet. Das Land, seine Gegenwart und Geschichte und der Kampf der kurdischen Bevölkerung sind die bestimmenden Themen des Romans. Diese seziert Schuberth mit bewundernswerter Genauigkeit und offenbart enormes Wissen, zulasten eines unerfahrenen Publikums. Wer schlecht über die Situation der Kurden und die kurdische Kultur informiert ist, wird hie und da im Internet nachsehen wollen. Auch wenn wir ein Glossar zur Verfügung gestellt bekommen, alle verwendeten Fremdwörter tauchen dort nicht auf. Schuberth richtet sich an eine LeserInnenschaft, welcher auch seine politischen Gedankengänge ein Anliegen sind. Die intensive Reflexion über den linken Kampf damals und heute überlässt er Ahmet. Als dieser in Holike ankommt, wirkt er streckenweise wie ein aus der Zeit gefallener Romantiker, der seine alten Ideale nicht verrät, aber sich dem Neuen auch nicht verwehrt. So beobachten wir ihn dabei, wie er gegen Ende die wichtige Rolle der Frauen innerhalb der PKK, der kurdischen Arbeiterpartei, erkennt und sich mit einem Stich im Herzen eine Lektion erteilen lässt. Immer wieder tritt eine Widersprüchlichkeit zutage, welche in Selbstreflexion und Identitätskonflikten mündet.

Widersprüchlichkeit erleben wir aber auch an anderer Stelle. Politische Romane stecken ihrem Wesen nach in der schwierigen Situation, scharfsinnige Reflexion mit überzeugender Erzählweise verbinden zu müssen, um den LeserInnen standzuhalten. Dies ist auch der große Kampf von Bus nach Bingöl: Wie viel politisches Detail lässt sich in die Geschichte integrieren ohne dabei alles zu sprengen? Das Buch basiert laut Vorbemerkung auf zwei themenverwandten Erzählungen und tatsächlich wirkt es so, als wäre die Geschichte um vorangehende Gedanken und Textbrocken gestrickt. Es gibt verschiedene Perspektivenwechsel, die den Erzählfluss eher behindern als bereichern, die verschiedenen Bögen der Geschichte werden nur unter großen Mühen gespannt. Die kurze Geschichte der beiden Frauen Meltem und Hatice, zum Beispiel, ist ein völlig folgenloser Einschub, der lediglich den Konflikt zwischen Abtreibung und Religiösität illustrieren will. Gut, abgehakt. Völlig unerwartet tauchen gegen Ende zwei E-Mails von Dilek auf, der Mitreisenden aus dem Bus, an deren letzten Auftritt wir uns an dieser Stelle gar nicht mehr erinnern. Sie sind aber wichtig, denn rückblickend werden wir erkennen, dass Schuberth mit diesem „Zwischenspiel“ den Höhepunkt der Geschichte vorbereitet hat. Vieles wirkt gewollt und bemüht in diesem Roman und das ist Schade, weil der Autor mit seinem Detailwissen und den interessanten Reflexionen viel zu bieten hat. Leider kann auch die Sprache nicht über diesen Missstand hinweghelfen, denn sie wird zur unfreiwilligen Komplizin des sehr wackelig konstruierten Plots. Sie zieht das Politische des Romans oft ins Rampenlicht, anstatt es eine hintergründige, aber ständige Präsenz sein zu lassen. Wenn der Erzähler von der Stärke der Frauen spricht, beispielsweise, dann so: „Nein, kämpfe nicht wie ein Mann, kämpfe wie eine Frau, denn niemand wird leugnen, dass Frauen das stärkere Geschlecht sind. Ein Dummkopf, wer das Märchen vom schwächeren Geschlecht erfunden hat“. Wieder gilt: Aussage getroffen, weiter im Text. Dabei ist Schuberths Reflexion am stärksten, wenn sie achtsam die Widersprüchlichkeit politischer Positionen erforscht und Fragen aufwirft anstatt sie zu beantworten.

Bus nach Bingöl ist ein hingebungsvoll entworfenes Porträt einer Region, die nie existierte, voller sympathischer Details, wie der Abhandlung über die Qualität türkischer Mekap-Sneaker. Gleichzeitig droht das Grundgerüst darunter einzustürzen und macht das Lesen zu einer holprigen Angelegenheit, die das Dranbleiben definitiv erschwert.

Richard Schuberth Bus nach Bingöl
Roman.
Klagenfurt: Drava, 2020.
280 S.; geb.
ISBN 978-3-85435-944-9.

Rezension vom 16.11.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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