#Roman

Burli

Bernd Fischerauer

// Rezension von Sabine E. Dengscherz (Selzer)

Graz, Sommer 1955. Die Besatzungsmächte bereiten ihren Abzug vor, die Gründung der FPÖ bahnt sich an, und der dreizehnjährige Adolf Wretschnig, genannt Burli, beschäftigt sich mit der Ergründung von Geheimnissen. Dabei kreist seine Aufmerksamkeit vor allem um zwei Brennpunkte: das weibliche Geschlecht und das Vorleben seiner Eltern. Und die Erkundung des ersteren erweist sich als wesentlich einfacher als jene des zweiteren.

Der Theater- und Filmregisseur Bernd Fischerauer, selbst Jahrgang 1943, hat sich mit seinem Protagonisten Adolf/Burli eine Art Alter Ego-Figur geschaffen, aus deren Sicht er eine frühe Jugend in den 50er Jahren schildert, einer Zeit, die auch er ungefähr im gleichen Alter erlebt hat wie sein Protagonist. Zu Beginn der großen Ferien hat der Ich-Erzähler beschlossen, „Dichter zu werden“ und sein Leben aufzuschreiben. Sein Schreibtalent hat er bereits in einigen Zeitungsartikeln bewiesen, nun macht er sich an ein Zeitdokument des Jahres 1955, geschildert am Beispiel von sich selbst und seiner Familie. Geschichte von unten – betrachtet mit den Augen eines – manchmal etwas altklugen – Jungen.

Unverfälscht soll es sein. Und ehrlich. Alles das, was man in seiner Umgebung eher nicht ist. Seine Eltern haben nicht nur einiges aus ihrer Nazivergangenheit zu verheimlichen, sondern auch diverse Seitensprünge. Es wird viel gelogen oder oft auch einfach gar nichts gesagt. Man weiß von nichts und will von nichts gewusst haben. Zum Beispiel dann, wenn die Polizei wissen will, wer der Mann ist, der vor dem Haus überfahren wurde. Oder wenn sie einem ein Foto zeigen, auf dem man Männer aus der Familie mit Pistolen in der Hand neben toten Frauen sehen kann (“ … wie kann man dir sowas überhaupt zeigen, in deinem Alter.“ S. 82). Der Roman lässt sich nicht zuletzt als ein Statement lesen zum Thema: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ (Ingeborg Bachmann).

Adolf hasst seinen Spitznamen „Burli“, er will ebenso beim Namen genannt werden wie er will, dass man die anderen Dinge beim Namen nennt. Er will wissen und verstehen. Und er stellt den Erwachsenen unangenehme Fragen. Sein Vorname, der den Erwachsenen nur so widerstrebend über die Lippen kommt, ist ein Symbol für ein Tabu, unter dem die ganze Familie und die halbe Gesellschaft wie unter eine Käseglocke lebt. Und Adolf setzt alles daran, um diese Käsglocke zu zertrümmern und dem Mief darunter zu entkommen. Er steckt seine Nase in das, was ihm unterkommt und kommentiert die Düfte, die ihm dabei begegnen. Nicht selten riecht es streng nach Angst.

Adolf kann nichts für die Verbrechen seiner Eltern und er kann nichts für seinen Vornamen. Aber er will wissen, was geschehen ist und was seine Eltern auf dem Kerbholz haben, findet, man sollte dazu stehen können, wer man ist und was man getan hat. Er selbst versucht dies über sein Schreiben, bei dem er auch immer wieder reflektiert, wer mit welchen Geschichten nun keine Freude haben wird, wer warum sauer auf ihn wäre, angesichts dessen, was er schreibt. Selbstredend bewegt er sich mit seinen „Vergehen“ (der Mutter was aus der Geldbörse klauen oder sich auch von der schönsten Verliebtheit nicht von sexuellen Abenteuern mit anderen abhalten lassen) auf einem vergleichsweise sehr harmlosen Terrain.

Mehr und mehr wird die Geschichte seiner Eltern auch zu seiner eigenen, aber er lässt sich nicht abbringen von der Suche nach der Wahrheit. Weder durch Schläge noch durch Scheitelknien (je mehr er herausfindet, desto weniger allerdings wird er geschlagen). Und auch nicht durch seine berechtigte Befürchtung, dass ihm die Vergangenheit seines Vaters schließlich selbst schaden könnte, zum Beispiel in den Augen der gutbürgerlichen Familie seiner Freundin Wiltrud, die er anhimmelt mit jeder Faser seines 13-jährigen Daseins. (Was ihn allerdings nicht daran hindert, auch weiterhin mit derselben Nachbarin zu schlafen wie sein Vater.) Und neben alldem lebt Adolf/Burli aber auch ein ganz normales Leben eines dreizehnjährigen Schülers, zwischen Schule, Schauspielunterricht, Faszination Kino und Vergnügungen des Sommers wie Radfahren, Baden gehen und zaghaften Küssen im Gebüsch. Der Ich-Erzähler ist nicht nur ein frühreifer Hallodri und gnadenloser Familiendetektiv, er ist auch ein kleiner Junge, der sich dafür interessiert, ob Mutter oder Tante Luise kocht.

Burli ist ein lebendiger Roman über das Aufwachsen im Österreich der Nachkriegszeit. Es geht um strenge Eltern, die „nur ihre Pflicht“ getan haben und bereit sind, sie auch weiter zu tun, und lockere Onkels und Tanten, um Alltagsverlogenheit und Rollenspiele auf der Schulbühne wie im Leben. Die Figur des Adolf steht für eine Generation, die zwischen Tabus und Entnazifizierung aufgewachsen ist und versucht, in diesem Umfeld eine ‚ganz normale‘ Jugend zu leben, mit allen Sinnen und allem was dazugehört: den Wohlgerüchen und dem Mief.

Bernd Fischerauer Burli
Roman.
Wien: Picus, 2017.
288 S.; geb.
ISBN 978-3-7117-2046-7.

Rezension vom 14.03.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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