#Roman

Buchstaben von Feuer

Ivan Ivanji

// Rezension von Simon Leitner

Buchstaben von Feuer, der neue Roman von Ivan Ivanji, dem einstigen Dolmetscher Titos (um diese Tatsache zumindest einmal zu erwähnen), beginnt in Belgrad; genauer gesagt auf dem Dach jenes zerbombten Gebäudes, das einst das serbische Bundesinnenministerium gewesen, bevor es im Zuge des Kosovo-Krieges von der NATO zerstört worden war. Hier, auf „dem Dach der Ruine, im Schatten des Baumes, wacht der vor mehr als neun Jahren verstorbene Siegfried Wahrlich aus Weimar in Deutschland auf, versteht nichts, am allerwenigsten wo er sich befindet und wie er herkommen [sic] ist, und wundert sich sehr.

Es kostet ihn Mühe und dauert ein wenig, bis er sich an seinen Tod erinnert, aber irgendwie fühlt er, dass er Zeit hat, außer Zeit gar nichts mehr besitzt“. Und diese Zeit verbringt Wahrlich bzw. sein Geist damit, Rückschau auf sein mehr als bewegtes Leben zu halten, dessen Geschichte eng mit jener Deutschlands im 20. Jahrhundert verknüpft ist – welche wiederum zu einem nicht unbeträchtlichen Teil jene der ganzen Welt war, wie man aus Geschichtsbüchern weiß.

Geboren wurde Siegfried Wahrlich in der Neujahrsnacht 1908 in Weimar, als Sohn eines servilen Kellners und einer Frau, von der man lediglich erfährt, dass sie bei der Geburt ihres Jungen verstorben ist. Schon in früher Kindheit entdeckt Wahrlich sein handwerkliches Geschick, ist so manchem im Hotel „Elephant“ tätigen Meister bei diversen Arbeiten eine große Hilfe, bevor er in der Gothaer Waggonfabrik eine Schlosserlehre beginnt, um anschließend im berühmten Bauhaus zu studieren und zu arbeiten. Von all den politischen Turbulenzen um sich herum, dem Anfang und Ende des Ersten Weltkriegs, den vielen Aufständen, die schließlich zur Gründung der Weimarer Republik führen, und dem Erstarken der NSDAP, zeigt er sich zu jenem Zeitpunkt noch relativ unbeeindruckt. Wahrlich konzentriert sich lieber auf seine Arbeit in der Fabrik und sein Studium im Bauhaus sowie auf seine ersten Erfahrungen mit Mädchen.

Diese sind es dann auch, die den jungen Wahrlich dazu ermutigen, sich (zumindest ein wenig) politisch zu engagieren, und er kommt diesen Bitten oder präziser: Forderungen seitens seiner jeweiligen Freundin zwar ein wenig unsicher, aber schlussendlich doch nach. Er tritt also, mehr gleichgültig als begeistert, erst der Sozialistischen Arbeiterjugend und später der KPD bei und wird schließlich durch einen unglücklichen Zufall von der Gestapo verhaftet und als so genannter „Politischer“ ins Konzentrationslager Buchenwald gesteckt. Im Gegensatz zu den meisten dort Inhaftierten wird Wahrlich zwar wieder freigelassen, allerdings nur, um wenig später mit dem Strafbataillon 999 in Afrika, Griechenland und zuletzt in jugoslawischer Gefangenschaft zu landen. Doch Wahrlich überlebt auch dies und wird durch Kontakte in Belgrad zum Bauleiter ernannt, in dessen Funktion er unter anderem an der Errichtung jenes Gebäudes beteiligt ist, auf dessen Dach er nach seinem Tod herumspuken sollte. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland und langer Zeit in der DDR stirbt Wahrlich ironischerweise schließlich doch noch in Buchenwald, bei einem Besuch des ehemaligen KZs mit seiner Enkelin.

Wahrlichs Leben ist also in jedem Sinne das, was man ein bewegtes Leben nennt. Er wird von seinem Schöpfer Ivanji geradezu in ein Meer an Geschichte hineingeworfen, und nicht nur einmal droht er, darin unterzugehen – und das gleich in mehrerlei Hinsicht: Ivanji beschreibt die vielen einschneidenden gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen im Deutschland des 20. Jahrhunderts bisweilen derart ausführlich, dass man ob der vielen Daten und Fakten und den kurz angerissenen Lebensläufen diverser realer Personen wie Rosa Luxemburg oder Walter Gropius den Protagonisten des Romans fast vergisst. Zwar versucht Ivanji immer wieder, Wahrlich in die Ereignisse einzubinden, und meist gelingt ihm das auch, doch beschränken sich diese Versuche (gerade am Anfang des Romans) oft nur auf kurze und recht lapidare Feststellungen in der Art, Wahrlich hätte mit all dem um ihn herum wenig zu schaffen oder eben gerade anderes zu tun. Dies mag der Figur durchaus angemessen sein, doch manch einem könnte der – wohl beabsichtigte – Umstand, dass Wahrlich nicht nur als Geist äußerst diffus bleibt und, wie selbst seine Mitmenschen ihm nicht nur einmal zu verstehen geben, „weder Fisch noch Fleisch“ ist, missfallen.

Ansonsten und alles in allem ist Wahrlich jedoch, obwohl er mit dem Künstler und Architekten Franz Ehrlich, der ebenfalls immer wieder im Roman auftaucht und einige Gemeinsamkeiten mit Wahrlich aufweist, gewissermaßen eine reale Vorlage hatte, eine äußerst originelle und liebenswerte Figur, und gerade seine im wahrsten Sinne des Wortes kaum zu fassende Persönlichkeit, wie eben erwähnt „weder Fisch noch Fleisch“, trägt erheblich dazu bei. So wenig Mitläufer wie Opportunist, schafft er es, allen Widrigkeiten und den unzähligen Knüppeln, die ihm das Schicksal in Form von schrecklichen geschichtlichen Entwicklungen vor die Füße wirft, zum Trotz, immer wieder auf die Beine zu kommen. „Seit frühester Kindheit hatte er ohne Hadern Schläge und Geschenke des Schicksals entgegengenommen, als könnte nichts anders sein, als es tatsächlich war“, heißt es an einer Stelle des Romans, und genauer kann man Wahrlichs Gemüt fast nicht auf den Punkt bringen. Er treibt, um oben erwähnte Metapher wieder aufzugreifen, in einem Meer aus Geschichte dahin wie ein moderner Odysseus, und wie dieser geht er nicht unter; er ist ein Schelm, der sich, ganz in Manier pikaresker Romane, immer wieder auf unfassbare Weise durchs Leben schlägt.

So außergewöhnlich Wahrlichs Lebenslauf auch ist, so unspektakulär bleibt Ivanjis Erzählstil – im positiven Sinn. „Buchstaben von Feuer“ ist gewissermaßen Roman und Geschichtsbuch in einem, und letzterem entsprechend herrscht ein klarer und sachlicher Stil, eine recht unkomplizierte Syntax und eine Distanz des Erzählers zum Geschehen vor. Nur wenige Male lässt sich Ivanji zu Bewertungen hinreißen, wenn er etwa vom „Diktator“ Miloševi?, dem „Krieg der NATO gegen Serbien“ oder in Bezug auf Mutmaßungen über den bosnischen Spion Mustafa Golubi? von „Unsinn“ spricht. Ansonsten bleibt Ivanji neutral und vermag es mühelos, zwischen den bereits angesprochenen Polen Roman und Geschichtsbuch hin und her zu springen und dabei gleichermaßen spannend wie unterhaltsam zu bleiben. Ebenso souverän meistert er die Verbindung von realistischen mit magischen Elementen: Hier seien als Beispiele nur die durchwegs surreale Rahmenhandlung auf dem Dach des ehemaligen Ministeriums, wo Wahrlichs Geist mit dem so genannten Aschenmenschen von Buchenwald über das Leben des ersteren philosophiert, und der Beginn des Romans, wo dieses Treffen über den Dächern von Belgrad unvermittelt auf eine sachliche, ja fast langweilige Wegbeschreibung zum Ministeriumsgebäude folgt, erwähnt. Ivan Ivanji gelingt mit „Buchstaben von Feuer“ jedenfalls das Kunststück, auf gerade mal 200 Seiten Schelmen- mit Historienroman zu verbinden und ein ganzes Jahrhundert am Schicksal einer einzelnen Person zu illustrieren – das soll ihm erst mal jemand nachmachen.

Ivan Ivanji Buchstaben von Feuer
Roman.
Wien: Picus, 2011.
216 S.; geb.
ISBN 978-3-85452-672-8.

Rezension vom 28.04.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.