#Prosa

Buch ohne Bedeutung

Robert Schneider

// Rezension von Florian Dietmaier

Scheherazade erzählt ihre tausendundein Geschichten, um nicht sterben zu müssen und die jungen Menschen in Boccaccios Decamerone erzählen einander hundert Novellen, um sich von der Pest in Venedig abzulenken. Robert Schneider erzählt die einhundertein Kürzestgeschichten, die er in Buch ohne Bedeutung gesammelt hat, um das Leben und sein Erleben zu bejahen.

In der ersten Geschichte, Ich, Verschwender, etwa wird ein vermutlich autobiografischer Erzähler von einem alten Freund gefragt, was er seinen Kindern hinterlassen wird, während seine Verlegerin fürchtet, dass er vergessen werden könnte. „Ein gelungenes Jahrzehnt“, antwortet der Erzähler seinem Freund, und seiner Verlegerin sagt er, dass es keine Schande sei, vergessen zu sein und weist sie auf einen Regenbogen über ihren Köpfen hin. Das Ich ist zufrieden und hat Zeit im Überfluss, es kann sie vergeuden: „Ich muss nicht mehr anfangen und auch nicht mehr fertig werden.“
Vielleicht erklärt diese doppelt befreiende Erkenntnis Schneiders Rückkehr zum Erzählen, ist Buch ohne Bedeutung, sieht man von überarbeiteten Neuauflagen ab, doch seine erste Veröffentlichung seit fünfzehn Jahren. Wenn man nicht mehr anfangen muss, kann man vom bisher Erlebten, von seiner Erfahrung schreiben und weiß auch, wie man darüber schreiben kann. Und wenn man nicht mehr fertig werden muss, weiß man, dass es keine langen Formen wie Romane oder Novellen für das Erzählen braucht: „Alles Monumentale ist fragwürdig geworden“, sagt Schneider in der Pressemitteilung zu seiner Sammlung.
Deshalb erzählt er auf jeweils eineinhalb Seiten zu rund 1750 Zeichen kürzeste Geschichten aus vielen Zeiten und Ländern, lässt unter anderem Kühe, Erdbeeren, Pflanzen, Schuhe und andere Gegenstände anspielungsreich und ironisch das aktuelle Zeitgeschehen kommentieren, (er)findet neue Märchen und, was zu den schönsten Geschichten führt, erinnert sich an seine eigene Kindheit in Vorarlberg. Mit jedem Umblättern bekommt die Leserin / der Leser also etwas Neues geboten.
In Der unbesungene Mr. Houbolt erinnert Schneider an jenen Flugzeugingenieur, der 1961 mit einem Brief an den stellvertretenden NASA-Administrator Robert Seamans zu einem Umdenken im Mondlandeprogramm der NASA geführt hat. „Dass Neil Armstrong den historischen Satz sprechen durfte, ist ein Wunder. Dass Houbolts Brief nicht in Seamans Mülleimer landete, das recht eigentliche.“
In Rechts und Links streiten ein rechter und ein linker Schuh. Der Linke fragt: „Wie soll […] ein konstruktiver Dialog entstehen, wenn Sie jedes Wort ins Groteske ziehen?“ / „Ach, ihr Linken seid ja sowas von humorlos“, bemerkt der Rechte. Die Schuhe gehen schließlich soweit in ihrer Meinung und tatsächlich auseinander, dass der Mann, der die Schuhe trägt, stolpert. Die neuen Schuhen sind aber nicht besser. Sie streiten so lange, bis sie nicht mehr miteinander reden und „fortan gingen sie schweigend aneinander vorbei.“
Neben dem autobiografischen Ich kommt eine weitere Figur in mehreren Geschichten vor: „Ein Mann mit Hut“ muss feststellen, dass über die angespannte Gegenwart zu sprechen ein Hinderniskurs auf einem Feld voller Fettnäpfchen ist.
In Der Ahnunglose, seiner ersten von vier Geschichten, äußert der Mann offen seine Meinung zur gegenwärtigen Situation. „Alles halb so schlimm, finde ich. Die Medien übertreiben wirklich maßlos. Verdienen auch schließlich ihr Geld damit.“ Und prompt wird er „ein Verschwörungstheoretiker“ genannt. Also studiert er in die Nächte hinein, liest einhundertzweiundzwanzig Expertenmeinungen und fragt dann eine junge Mutter, wie sie die gegenwärtige Situation beurteile. „Die Medien übertreiben wirklich maßlos“, antwortet sie und lässt den Mann mit Hut sprachlos zurück.
In seiner zweiten Geschichte, Die neue Zeit, hat „der Präsident aus dem Land der blauen Berge und der grünen Seen“ diese „neue, gute Zeit“ ausgerufen, in der man sich wieder umarmen könne. Als der Mann mit Hut überglücklich eine ihm völlig unbekannte Dame umarmt, ist die wenig erfreut. Wieder liest und studierte er in die Nächte hinein, erwägt das Für und Wider dieser Zeit. Als er sich wieder nach draußen traut, besucht er sein Stammrestaurant, wo ihn der Besitzer „mütterlich herzen“ will. Doch der Mann mit Hut weicht zurück.
In Pänk vor dreißig Jahren trifft Pänk seine Studienkollegin nach dreißig Jahren wieder. „Sag Nostalgie, sag Verklärung, aber früher war alles besser“ und die Studienkollegin stimmt zu. „Könnte ich das Rad der Zeit, wie man so sagt, um dreißig Jahre zurückdrehen! Was war ich ein wilder Hund!“ Wie in einem Märchen wird ihm der Wunsch gewährt und kurz sitzt er der Studienkollegin vor dreißig Jahren gegenüber und wiegelt ihren Vorschlag ab, nach Amerika zu gehen und was mit dem frühen Internet zu machen. „Ich bin mir da nicht so sicher. Das kann auch floppen.“
In Die Pillendose, einer der autobiografischen Geschichten, scheint das Ich diesen Gedanken weiterzuverfolgen und kommt gleich zu Beginn zum Schluss, dass auch seine eigene, von ihm erlebte und erinnerte Kindheit kein in Stein gemeißeltes Monument ist: „Vom Vergangenen erzählen heißt, über das Gegenwärtige reden. Erinnerungen sind ein Wald mit Lichtungen, und selbst die Orte des Kahlschlags sind trügerisch, nämlich dort, wo mir das Gedächtnis vorgibt, besonders klar zu sehen. Vielleicht erzähle ich diese Geschichte morgen schon anders. Ich erzähle sie jetzt.“
In dieser Geschichte über die früheste Erinnerung an seine Kindheit hält das Ich die titelgebende Pillendose in der Hand, als es zu seinen Adoptiveltern kommt. Frau Scheyer will ihm die Dose, eine Habseligkeit, die es aus dem Kinderdorf mitgebracht hat, wegnehmen und es wehrt sich dagegen. „Ich ahnte ja nicht, dass ich dafür ein behütetes Zuhause bekam.“ Der Erzähler sagt dennoch, er würde es wieder tun, sich „für die Anmaßung entscheiden, die unerwiderten Lieben und die Plastikdose.“
In einer der letzten Geschichten, Der letzte Leser, geht Schneider auf den Titel seines Buches ein. In einer (nahen, fernen?) Zukunft sperrt die letzte Berliner Buchhandlung zu. Ein Innendesign-Büro kauft den Bestand auf, um ‚Nostalgikern‘ entgegen zu kommen, die ihre Bücherwände, nicht „durch wandfüllende Oled-Screens in HDR-Qualität“ simulieren wollen. Der Büroleiter erzählt, dass es wegen der hohen Speditionskosten beinah ein Verlustgeschäft sei: „Ein Buch hat keine Bedeutung mehr, abgesehen davon, dass es unhandlich ist.“
Als die Spediteure die Bücher abholen, kommt ein älterer Herr in die Buchhandlung, sieht Adalbert Stifters Bunte Steine und sucht die Passage mit der mysteriösen Lichterscheinung in der Erzählung Bergkristall. Er findet sie, beginnt zu lesen, doch der Spediteur nimmt ihm das Buch weg. Es muss ihm die Gewissheit bleiben, dass die „eisigkalten Lichtgarben […] die Kinder vor dem Erfrieren gerettet“ haben. Das bedeutet ihm so viel, dass seine Lippen beben und der Spediteur sich von diesem Anblick abwenden muss.
Robert Schneider weiß um diese Bedeutungen. Sie können sich im (Wieder-)Finden von Dingen und Erinnerungen verstecken, wie in der Pillendose oder in Stifters Band Bunte Steine. Und in der Zusammenkunft von Lebewesen, dem Aufeinanderprallen ihrer Wünsche, Ängste und Ideen, wie es Pänk oder der Mann mit dem Hut erfahren. Schneider erzählt in diesen hundertein Geschichten von ihnen. Schön, dass er sich dazu Zeit genommen hat.

Robert Schneider Buch ohne Bedeutung
Kurzgeschichten.
Göttingen: Wallstein, 2022.
212 S.; geb.
ISBN 978-3-8353-5195-0.

Rezension vom 28.02.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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