#Sachbuch

Briefe ohne Antwort

Otto Leichter

// Rezension von Alfred Pfabigan

Die Zeitzeugen sind zum größten Teil verstorben, das Interesse einer nachfolgenden Generation am Austromarxismus ist abgeflaut und die Namen Otto und Käthe Leichter sind heute nur mehr Spezialisten vertraut. Beide waren zu ihrer Zeit gewichtige Stimmen des Austromarxismus, anfänglich Otto Bauer und seinem Kurs treu ergeben, später sich allmählich von ihm distanzierend. Als Publizist hat Otto Leichter die illegale Periode der österreichischen Sozialdemokratie kommentiert, als Aktivist hat er dem seiner Meinung nach schädlichen Kurs Joseph Buttingers opponiert. Käthe Leichter leitete das Frauenreferat der Wiener Arbeiterkammer und veröffentlichte heute noch interessante Untersuchungen zur Frauenarbeit. Auch sie nahm an illegalen Aktionen der verbotenen Partei teil, beide waren 1935 kurzzeitig verhaftet, wurden aber aus Mangel an Beweisen freigelassen.

Zwei exponierte Sozialdemokraten jüdischer Abstammung waren nach dem „Anschluss“ in höchstem Maß gefährdet. Otto Leichter verließ Österreich sofort, während seine Frau aus vielfältigen und bis heute noch nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen im Land blieb. Die Gestapo verhaftete sie am 30. Mai 1938 unter der Anklage des Hochverrates und damit begann ihre persönliche Tragödie, die mit ihrer Ermordung im KZ Ravensbrück 1942 endete. Kurze Zeit war eine Art „offizieller“ Kontakt zwischen den Eheleuten möglich, auch konnte Otto Leichter zeitweilig seiner inhaftierten Gattin über eine Mittlerin kodierte Nachrichten zukommen lassen. Doch abgesehen davon hat der exilierte Leichter mit seiner Frau in einer Weise kommuniziert, die vielleicht schon von vielen Menschen in einer vergleichbaren Situation gewählt wurde, die aber außerhalb des Feldes der „Literatur“ kaum publiziert wurde: Vom September 1938 bis zum August 1939 verfasste er im Pariser Exil mit allmählich nachlassender Intensität Texte, die der Form nach Briefe an seine Gattin darstellen.

Tatsächlich sind es Texte eigener Ordnung, die im Seelenleben des Verfassers wohl einen hohen Stellenwert hatten. Sie sind im Bewusstsein ihrer Unzustellbarkeit verfasst, wissend, dass es wohl keine „unmittelbare“ Antwort auf sie geben würde, und ignorieren gleichzeitig diese Konstellation und imaginieren die wenigstens schriftliche Erreichbarkeit der Gattin. Ganz offensichtlich brauchte Otto Leichter die Fiktion des Briefwechsels mit dem manchmal täglichen Bericht über das Gedeihen der Buben, die aus Österreich in Sicherheit gebracht werden konnten, und der rituellen Frage nach dem Befinden der Adressatin. Manchmal imitiert er bewusst den Gestus dessen, der auf eine Antwort wartet, manchmal spielen die Texte mit der Idee einer (gemeinsamen) Lektüre nach der immer unwahrscheinlicher werdenden Freilassung der Inhaftierten. Immer versucht er, wenigstens schriftlich eine Art „Beziehung“ aufrechtzuerhalten und vor allem innerhalb dieser fiktiven Beziehung mit sich selbst ins reine zu kommen. Wer die Briefe liest, gewinnt den Eindruck, dass Käthe Leichter in dieser Ehe zumindest in den praktischen Fragen des Alltags die Stärkere war und dass der Gatte das Medium des Briefes benutzte, um für sich selbst herauszufinden, wie sich seine Frau in der ihn zeitweilig extrem überfordernden Situation als Flüchtling und „alleinerziehender Vater“ verhalten hätte. Es gibt Vorwürfe an die Abwesende, am schwerwiegendsten wohl der, sie hätte sich die Emigration in einer „etwas kindlichen Art“ vorgestellt, doch die positive Beziehung dominiert. Was Leichter verfasst hat, sind manchmal Liebesbriefe, manchmal eine Art segmenthaftes Tagebuch eines einsamen Mannes, es ist aber auch der Rechenschaftsbericht eines Davongekommenen, der unter dem obligaten Schuldgefühl leidet und gleichzeitig in einer vorsichtigen und untergründigen Weise die Selbstverantwortung seiner Frau andiskutiert.

Die Situation Otto Leichters – die des Flüchtigen, der um geliebte Menschen in der „Heimat“ bangt -, war keineswegs ungewöhnlich. Diese Briefe sind also ein wichtiges Dokument zur seelischen Disposition der „Davongekommenen“, doch ihr Quellenwert für die Exilforschung geht darüber hinaus. Zum einen waren die Leichters – der Vater und die beiden Söhne – mit den alltäglichen Schwierigkeiten des Exils konfrontiert: Wohnungsnöte, die Frage der Schule für die Kinder, die Stellung als „feindliche Ausländer. Wir kennen diese Sorgen aus zahlreichen Erinnerungen, hier werden wir sozusagen zeitgleich mit ihnen konfrontiert. Zudem hatten die Leichters offensichtlich die Angewohnheit, sich über politische Fragen auszutauschen, und Otto hat das in den Briefen fortgeführt. Bemerkenswert sind die persönlichen Porträts der „großen Männer“ des sozialdemokratischen Exils, die Schilderung des Gegners Buttinger, der recht mühelos in die Rolle des Gatten der vermögenden Analytikerin Muriel Gardiner schlüpfte, des aus Leichters Optik extrem egozentrischen Ehepaars Oscar und Marianne Pollak und schließlich die berührende Schilderung des in seiner Rolle in der sozialdemokratischen Internationale scheiternden Friedrich Adler und seiner Gattin. Bemerkenswert sind auch die weltpolitischen Einschätzungen Leichters, manche von ihnen sind äußerst hellsichtig, manche widerspiegeln zeitgeistige Illusionen des Exils.

Laut Herbert Steiners erster Biographie über Käthe Leichter galt der „Briefwechsel“ als verloren, Henry Leichter, der Sohn des Paares, meint zwar ihn noch 1945 unversehrt in der Pariser Wohnung gefunden zu haben, doch tatsächlich tauchte das Konvolut nach der Öffnung der sowjetischen Archive in Moskau auf, wo es Stefan Karner und Gerhard Jagschitz entdeckten und in ihrer Publikation von „Beuteakten aus Österreich“ erwähnten. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes vermuten, dass Leichter den Text vor seiner Emigration in die USA zu Friedrich Adler nach Brüssel sandte und er dort von der Gestapo beschlagnahmt wurde. So ist nicht nur der Text eigenartig, sondern dieses rare authentische Exildokument hat auch eine bemerkenswerte Geschichte.

Otto Leichter Briefe ohne Antwort
Aufzeichnungen aus dem Pariser Exil für Käthe Leichter 1938 – 1939.
Hg: Heinrich Berger, Gerhard Botz, Edith Saurer.
Mit Nachwort von: Henry O. Leichter.
Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2003.
349 S.; geb.
ISBN 3-205-77051-X.

Rezension vom 28.12.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.