#Lyrik

Brauchst du den Schlaf dieser Nacht

Evelyn Schlag

// Rezension von Martin Reiterer

Die „Landschaften in / Fremden Gedichten sehen immer größer aus“ (S. 18). So verhält es sich auch mit den Gedichten von Evelyn Schlag. Und daher brauchen sie etwas Zeit: „[I]ch lerne so langsam ich / Brauche Jahre um unsere Landschaft zu sehen“ (ebd.), bekennt das Ich, das durch diese Gedichte, Natur- und Liebeslandschaften, Reise- und Erinnerungslandschaften, geht. Man muss sich, damit sie einen einlassen, in diese Gedichte erst einlesen. Dann aber werden sie eine/n weiter tragen. Man kann es durchaus auch als einen durchtriebenen Trick ihrer „Sprache ohne Punkt“ (S. 68) betrachten: Punkt- und kommalos entziehen sie dem Auge jeglichen äußeren Anhaltspunkt, denn auch auf das Zeilenende ist nicht Verlass, setzt Schlag, sparsam zwar, doch gezielt auf die Kunst des Enjambements. Man muss sich daher den Rhythmus buchstäblich, entlang der Worte, ertasten. Er ist es, der die in diesem Band versammelten Gedichte, Elegien, Songs und erzählenden Langgedichte wie von selbst aneinander reiht und sie schließlich in eine einzige rhythmische Landschaft verwandelt.

 

In dem „Curriculum vitae“ bezeichneten Gedicht am Ende des Bandes scheint implizit eine entsprechende Anleitung zur Lektüre, ein Curriculum also, enthalten. Das Ich hält fest, dass es trotz seiner Erfahrung „Mit betonter Langsamkeit lese und nicht / Wie man erwarten könnte geübter und / Mit Blick auf das was man weglassen kann“ (S. 113). Das ist auf Schlags Gedichtband anzuwenden. Ein Weglassen könnte nur auf Zufall beruhen. Umgekehrt sticht keines der Gedichte dieses Bandes spektakulär hervor, wodurch es das Gleichmaß verraten würde.

Von der Bewegung getragen, sanft-, wehmütig ob „dieses / Um Ewigkeiten zu kurzen Sommers“ (S. 11), führt Schlags Poesiereise zwischen Meer und Bergen, Städten und Gärten in jene Glückslandschaften, die zwischen dem Wunsch „laß uns im Schlaf / In Brüche gehen und von fremder Hand zusammen / Gesetzt werden die keinen Unterschied sieht“ (S. 52) und dem Bewusstsein angesiedelt sind, „daß wir einmal gehen werden müssen / Weil uns nicht zusteht das Glück der Tiere“ (S. 28). Die Erinnerung an den Schmerz, „Daß du mich einmal wirklich / Aus dem Schatten geholt hast // Von wo ich dich niemals / Will holen müssen“ (S. 37), evoziert Schlag durch das Bild von Orpheus und Eurydike. Der Rilkebezug, in diesem Zusammenhang explizit gemacht, wird auch noch in anderer Hinsicht, durch den erwähnten kunstvollen Gebrauch des Enjambements hergestellt. Kleine Ehrerweisungen werden auch anderen Autorinnen entrichtet, wie etwa die hübsche an Pessoa: „Der Name des berühmten Dichters / Der Stadt kommt wie aus einer / Sodawasserflasche geschossen / Fernando P’ssoa“. Mitunter allerdings wirken Verweise und Aufzählungen von Dichtern und Büchern doch auch selbstgefällig.

Interessanter sind dagegen wiederum die zahlreichen Bezüge zu viel unscheinbareren Phänomenen, die da alle Gegenstand eines elegischen Gedichts sind oder in kleinen Hymnen besungen werden: Stofftiere, Kunststoffrosen, amerikanische Pappteller oder ein Adressbuch mit kyrillischem Register aus dem ehemaligen Serbien. Tiere tauchen aus der Kindheit auf, um ihren „Gegenzauber“ (S. 92) gegen die Verächter des Glücks zu entfalten. Das lyrische Ich selbst hat auf seinen Reisen einen Zuwachs an Souveränität erfahren: „Zurückblickend sehe ich ein Reh / Wie es langen Anlauf nimmt und dort / Wo sich der Garten über den Zaun lehnt / Mühelos übersetzt“ (S. 113).

Brauchst du den Schlaf dieser Nacht.
Gedichte.
Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2002.
217 Seiten, gebunden.
ISBN 3-552-05208-9.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 02.12.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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