#Roman

Bora

Ruth Cerha

// Rezension von Eva Maria Stöckler

Eine Geschichte vom Wind

Die 39jährige Wiener Schriftstellerin Mara Benesch verbringt die Sommermonate alljährlich auf einer kleinen kroatischen Insel, um an ihren Texten zu schreiben. Dieses Jahr scheint ihr das jedoch nicht so recht zu gelingen, eine Schreibkrise und die immer wiederkehrende Bora versetzen sie in Unruhe, die durch Ablenkung mit ihren Freunden, der Vermieterin Tereza und dem Bildhauer Harry, nur unzureichend gemildert wird.

Ein nicht unwesentlicher Grund für diese Unruhe ist auch die Ankunft des Fotografen Andrej, eines Amerikaners aus Hoboken, New Jersey, dessen Eltern vor Jahren vor dem Titoregime von der Insel geflohen sind. „Es fühlte sich an, als wäre meine Silhouette verrutscht und stimmte nun nicht mehr mit den Rändern meines realen Körpers überein.“ (S.11). Sein Aufenthalt gilt dem „Emigrants Day“, einem Treffen jener Familien, die sich in der Fremde eine neue Existenz aufbauen mussten, und nun alljährlich für diese Feier in ihre alte Heimat zurückkehren.
„Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr schien mir, dass die Insel einen Teil ihrer entrückten Atmosphäre den Wünschen und Sehnsüchten derer verdankte, die hier aufgewachsen waren und sie verlassen hatten, gemeinsam mit ihrer Kindheit und Jugend. Sie waren gegangen, um ein besseres Leben zu finden, doch als sie es hatten, wurde die Insel zu einem Symbol für alles, was sie in diesem Leben vermissten.“ (S.246)

Nach einem flüchtigen Zusammentreffen zwischen Mara und Andrej entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen den beiden, in die Ruth Cerha Geschichten von Flucht und Vertreibung, von der Suche nach der eigenen Identität und dem Begehren, seinen Wünschen und Sehnsüchten Ausdruck zu verleihen, verwebt. Die Bora, der kalte Wind aus dem Norden, sorgt dafür, dass Gedanken und Erwartungen immer wieder durcheinandergewirbelt werden, dass Andrej sich seiner Heimatlosigkeit – „Ich wartete auf einen günstigen Wind, einen Sturm, der mich fortriss, egal wohin.“ (S. 172) – aber mehr und mehr auch seiner Sehnsucht nach einem Zuhause gewahr wird, dass sein kurzer Besuch zu einem langen Sommer wird und er angeregt durch Maras schriftstellerische Neugier beginnt, sich mit dem „Haus (s)einer Geschichte“ (S.171) auseinanderzusetzen.
Mara hingegen findet zum Schreiben zurück, indem sie beginnt, zum Teil mit starken Zweifeln, die Geschichte dieser Menschen niederzuschreiben, ihnen nicht nur Geschichten, sondern „Geschichte“ verleiht. „Was gab mir das Recht, mich in diese Menschen hineinzuimaginieren, Versatzstücke ihrer realen individuellen Geschichten zusammenzuschustern zu literarischen Figuren und diese anzureichern mit meiner eigenen Fantasie, die ja immer auch ein Spiegel meiner eigenen Geschichte, meiner Sehnsüchte und Enttäuschungen, meiner höchst privaten Freuden und Leiden war?“ (S.216)
Ruth Cerha nähert sich ihren Figuren sehr respektvoll und vorsichtig. Sie stellt sie nicht bloß , sondern verleiht ihnen eine Sprache, die ihnen Möglichkeit zum Ausdruck wie Rückzug gleichermaßen gibt. Sie betrachtet sie als „Talking sculptures“, wie sie der Bildhauer Harry schafft, Objekte, Skulpturen, denen er Texte einschreibt und dadurch Grenzen künstlerischer Ausdrucksformen überschreitet, wie schon im Eingangszitat von Ilija Jovanovic´, dessen „Ein Wind bin ich“ zum Symbol der Bora überleitet.

Abwechselnd kommen Mara und Andrej zu Wort, geben Einblick in ihre Gedanken- und Sehnsuchtswelt. Dabei verortet Cerha ihre Geschichte sehr real. Es ist von geographischen Bezugspunkten die Rede (Lošinj, Zagreb, Wien), von Literatur, auch Musik, vorwiegend aus der westlichen Populärkultur spielt eine Rolle, ohne dabei in den Vordergrund zu drängen. All dies scheint notwendig zu sein, um jenen Hintergrund zu malen, vor dem sich zunächst unmerklich und dann sehr deutlich eine Zäsur in Maras und Andrejs Leben vollzieht. „ … der Abschied von diesem einen Sommer, in dem ich begriff, dass die Insel gleichzeitig ein Ort in mir und außerhalb von mir war, und in dem sie ein neues Gesicht bekam.“ (S.223)
Der künstlerische Ausdruck selbst ist immer wieder Thema in Gesprächen zwischen Mara und Andrej, aber auch zwischen Mara und Harry. Dabei wird das Schreiben, das Abbilden, das Gestalten thematisiert. Andrej, der mit seiner Arbeit unzufrieden war, findet im Abbilden von Menschen und ihren unverstellten Blicken seinen künstlerischen Weg. Immer wieder aber wird der Text selbstreflexiv – „Was würdest du machen mit uns, wenn wir Romanfiguren wären, ein literarisches Liebespaar? Wie würde unsere Geschichte weitergehen?“ (S.238). Das Schreiben selbst – und beinahe entsteht der Eindruck, Ruth Cerha hätte sich selbst schreibend beim Schreiben beobachtet – wird zum Weg zur Erkenntnis seiner selbst, und dies in einer Sprache voll Poesie, die dennoch immer präzise und klar bleibt.
Letztendlich zieht Mara jenen Schluss, der auch der Schüssel der Geschichte ist. „Dass Andrej recht gehabt haben könnte und ich hier niemals an einem realen Ort gewesen war, sondern in einer Projektion meiner Wünsche und Bedürfnisse. Und dass ich recht gehabt hatte und auch mein Bild von Andrej eine solche Projektion war, keine Wahrnehmung, sondern höchstens eine Wahrscheinlichkeit, mit der sich meine Sehnsüchte erfüllten oder auch nicht.“ (S.210)

Ruth Cerha Bora
Roman.
Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt, 2015.
256 S.; geb.
ISBN 978-3-627-00215-2.

Rezension vom 02.09.2015

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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