Der melancholische Blick zurück aus dem transkulturellen Dazwischen erweckt mythologische Figuren wie Stammvater cech oder die Nixe Rusalka neben Verwandten und Bekannten wieder zum Leben und setzt sie identifikatorisch in Beziehung zur Biografie der Erzählerinnen, die wie Undinen mit dem feuchten Element auf besondere Weise verbunden sind. Auf Stilmittel der Fantastik rekurrierend, erlebt eine tschechisch-österreichische Rückkehrerin ihre Fahrten durch die einstige Heimat als „Inselhüpfen“, wie der Titel der ersten Erzählung suggeriert: „Nördlich von Gmünd und Hohenau nur Wasser und einzelne Inseln, wenige davon habe ich je betreten. Ich nenne sie Benešov, Mikulov oder Brno. Die anderen Inseln kenne ich nur vom Vorbeitreiben, Tábor zum Beispiel oder ceská Trebová, vom Fenster der Fähre, unterwegs zur Haupt(stadt)insel.“
Dabei werden Vertrautheit und Anderssein zu ständigen Begleitern der Erzählstimmen, die so wandelbar und beweglich wie das Wasser selbst sind. In der Erzählung „Mündungen“ etwa figuriert eine Protagonistin, die schon als kleines Mädchen über Gewässer und ihre topografische Verortung auf verblüffende Weise Bescheid weiß. Aufgrund dieser Fähigkeit wird sie ihrer Umgebung suspekt und schließlich zur Außenseiterin, denn „keiner hört gern einer Achtjährigen zu, wenn sie Gewässer herunterbetet wie andere Kinder die Stammbäume ihrer Comichelden“. Diese Wasserläufe überwinden wie so manche weibliche Figur in diesen Erzählungen sowohl Grenzen als auch Absperrungen und bergen vorwärtsdrängend die Verheißung auf Mündung, Meer und Ankunft.
Mit Böhmen ist der Ozean sucht die Autorin nicht nur an ein mythologisches, von Wassergeistern bevölkertes urslawisches Böhmen anzuknüpfen, sondern ruft auch die Unmenschlichkeit einer mühsam verdrängten kommunistischen Ära in Erinnerung. „Übergänge“ erzählt dazu passend die Geschichte einer ehemaligen Dissidentin, die sich im argentinischen Exil an ihre Prager Zeit als Fackel Nummer achtzehn erinnert, um sich zu fragen, warum sie viele Jahre später auf dem Wenzelsplatz versagte und die von ihren Mitstreitern initiierte Brandopferserie nicht durch Selbstmord beendete.
„Husáks Stille“ wiederum berichtet von Milena Krámerová, der Tochter eines Regimekritikers, die Jahre nach der Wende für Schlagzeilen sorgt, indem sie sich an einem öffentlichen Gebäude ankettet, um auf das Verschwinden ihrer geheimpolizeilichen Akte aufmerksam zu machen, als ob sie dadurch Havels Devise „Die Wahrheit wird siegen“ einlösen wollte. Und es ist bezeichnend, dass sie gewissermaßen als Sensation im Rahmen einer Gespenstertour durch das alte Prag auftaucht und nicht nur die Touristen, sondern auch die befreundete Fremdenführerin mit unangenehmen Fragen konfrontiert.
Vergangenheit und Gegenwart, Tschechisch und Deutsch – im Buch dankenswerterweise oft Seite an Seite –, Vertrautes und Fremdes vermengen sich konturlos in Krcmárovás fiktionalem Kraftfeld und unterstreichen gekonnt die motivische Bedeutung des Wassers, das als Symbol des Lebens sowie des Weiblichen die Vielfalt dieser Geschichten vereint und ihnen seinen magischen Stempel aufdrückt. Dabei ist es egal, nach welcher Seite wir uns drehen, bleiben die alten Dämonen doch lebendig: „Die Fragen muss ich nicht einpacken, wenn ich die Grenzen kreuze, die finden mich auf jeder Seite meines geteilten Verbundgebietes, Kärnten oder Karpaten, Ústí oder Unter St. Veit.“
In poetischen, stimmungsvollen Bildern inszeniert die Autorin das komplexe Innenleben von Grenzgängerinnen zwischen den Kulturen, für die Begriffe wie hüben und drüben existenziell brisant und rätselhaft zugleich geblieben sind. Was Herkunft in Zeiten großer Migrationsströme für den Einzelnen bedeutet, welche Bruchlinien und Risse geografischer Mobilität geschuldet sind und wie teuer mitunter der Reichtum multikultureller Identität ‚erkauft‘ wird, veranschaulichen diese sensiblen, femininen Erzählungen aus dem Herzen Europas, wo Krcmárová als „Überlebende ohne Schiffbruch“ vor Anker gegangen ist.