#Roman
#Debüt

Boboville

Andrea Maria Dusl

// Rezension von Gerald Lind

In ihrem ersten Roman Boboville unternimmt Andrea Maria Dusl eine Vermessung der Lebenswelt der Bobos von Wien. Die Bobos – das Kürzel stammt von David Brooks und steht für „bourgeoise Bohemiens“ – sind eine von Dusl als „Falter“-Autorin ebenso beschriebene wie (mit)erfundene Gesellschaftsgruppe, wobei der Begriff der „Gruppe“ bereits eine Einheit suggeriert, die de facto nicht gegeben ist. Doch wer oder was sind die Bobos nun tatsächlich?

Der Roman liefert schon auf der ersten Seite eine Definition ex negativo: „Der Mann mit der Clownfrisur, der Zweifamilienbesitzer aus Amstetten? Kein Bobo. Auch der andere Schnitzelländer Tresortüreninstallateur nicht, der mit dem tschechischen Namen, der sich vor die S-Bahn geworfen hat. Bobos werfen sich nicht vor S-Bahnen, sie haben keine Keller. Sie springen von Dächern. Bobos wohnen in Boboville. Der Stadt in den Städten, dem Trockengebiet der Seele.“ (S. 9)
Die Bobos sind also die Guten, die Anti-„F.“s und Anti-Priklopils, sie haben keine Leichen im Keller – und auch keine Lebenden. Aber selbstverständlich gibt es auch eine positivere, eindeutigere Definition der Bobos im Roman, nämlich: „Linkswählende, gründenkende, wirtschaftsliberale Enddreißiger und Mittvierziger mit überkrusteten Katholikenseelen und bürgerlichen Herzklappen. Freitagtaschenjunkies, die Kaiser Chiefs hören und Facebook spielen, Designerliegen bewohnen und fermentiertes Zitronengras kauen.“ (S. 46)
Es handelt sich hier also um Personen, die aus welchen Gründen auch immer dem Prekariat entkommen sind und es sich nun in „Boboville“, wie Dusl jene Gegenden um den Wiener Naschmarkt, den Spittelberg oder den Karmelitermarkt nennt, gemütlich gemacht haben.

Boboville ist eine Sammlung von Anekdoten, skurrilen, phantastischen und/oder realistischen Kurzgeschichten und Erinnerungen, wobei die Basiserzählung ganz einfach aus den alltäglichen Erlebnissen, Tagesabläufen und Begegnungen in der Gegenwart der Ich-Erzählerin „Andrea Maria Dusl“ besteht. Diese Erzählgegenwart liegt sehr nahe am Erscheinungsdatum des Romans – so kommt zum Beispiel die Zeit der Fußball-Europameisterschaft (Juni 2008) schon ungefähr in der Mitte der Basiserzählung und somit des Buches vor. Als Leser fragt man sich nun, frappiert von der an Zeitungsartikel gemahnenden Aktualität der Geschehnisse, wie schnell die zweite Hälfte des Textes verfasst worden ist und wie wenig Zeit für eine genaue Überarbeitung geblieben sein muss. Jedenfalls verweist Dusl nicht grundlos schon zu Beginn des Romans auf vertragliche Verpflichtungen: „Das Bobovillebuch, ich muss es schreiben, ich will nicht, ich muss, ich bin in die Falle gegangen, in die Bobofalle“, und darauf, dass das Buch im Katalog angekündigt ist – im Herbstkatalog. (S. 9)
Der Zeitdruck beim Verfassen ist dem Buch leider auf der kompositorischen Ebene anzumerken. Die collagehafte Anordnung der Textsorten und Geschichtenpartikel wirkt nicht überzeugend, das Fehlen einer ausgearbeiteten Handlung ist wohl kein postmodernes Spiel mit Lesern, die sich eine „richtige“ Story erwarten, sondern scheint vielmehr dem Zwang der Umstände geschuldet.

Trotzdem ist das Sitzen und Liegen der Ich-Erzählerin „auf den durchgesessenen Pölstern des Zeitensofas“ (S. 106) nicht ohne Charme, ist das Gleiten durch die Zeiten und Räume – neben Wien spielt auch New York eine wichtige Rolle – nicht ohne Reiz. Das liegt vor allem an Dusls stilistischer Brillianz. Diese sprachliche Originalität, diesen Wort-Witz muss der Autorin erst einmal jemand nachmachen, auch wenn es selbstironisch im Buch heißt: „[U]nd der Stil, ach weißt du, der Stil, ich schreibe, wie es will in mir, eine Mischung aus Thomas Bernhard und Pippi Langstrumpf.“ (S. 72)
An Humor mangelt es „Boboville“ also nicht und oft bringt einen allein die Art der Erzählung zum Lachen. Zum Beispiel in jener Passage über die Kochgewohnheiten des Vaters, die von dessen Vorliebe für steinharten Parmesan handelt: „Bis heute ist nicht geklärt, ob wir an der Stahlraspel entlang versteinerten Parmesan auf die Schutta rieben, oder Stahlspäne von der Parmesanfeile hobelten.“ (S. 31)

Macht die sprachliche Ebene den Roman lesenswert, so hat man in Bezug auf die inhaltliche Ausarbeitung des Bobo-Themas das Gefühl, dass Dusl ihre Möglichkeiten nicht vollständig ausgeschöpft hat. Denn man erfährt zwar in „Boboville“ viel über die Ess-, Trink-, Ausgeh- und Einkaufgewohnheiten der Bobos, aber kaum etwas über existentielle Konflikte, sei es nun alle oder nur den Einzelnen betreffende. Die Bobos in Dusls Buch haben keine ernsthaften Probleme, sondern nur Problemchen, sie hinterfragen kaum ernsthaft sich selbst oder die Welt, sie konsumieren lieber, sie handeln nicht, sie performen nur. Ob sich diese Bestandsaufnahme mit der Realität deckt, kann hier nicht beantwortet werden. Wenn das Leben in Boboville tatsächlich so schnell vergänglich, vordergründig und eher auf Außen-, denn auf Innenwirkung bedacht ist, dann hat Dusl den Nagel auf den Kopf getroffen. Gibt es aber auch bei den Bobos Konflikte, Probleme, Schwierigkeiten, ungelöste Grundfragen, so werden sie in Boboville großteils ausgespart.

Andrea Maria Dusl kann fabelhaft schreiben, das zeigt sich auch in „Boboville“ an vielen witzigen und originellen Stellen. Aber eine Reihe toller Einzelpassagen macht noch keinen vollständig gelungenen Roman, dafür bleibt diese Bobotum-Analyse mit literarischen Mitteln insgesamt doch zu sehr an der Oberfläche.
Kein tiefgründig angelegter und aufwändig aufgebauter Schlüsselroman der Wiener Bobo-Szene also, aber ein im Großen und Ganzen anregendes Buch, das vor allem auf der sprachlich-stilistischen Ebene zu überzeugen weiß.

Andrea Maria Dusl Boboville
Roman.
Salzburg: Residenz, 2008.
240 S.; geb.
ISBN: 978-3-7017-1501-5.

Rezension vom 22.10.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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