Es geht um ein Erkennen, um genaues Schauen, Beobachten, ein Abschätzen und Zuordnen, in Achtung der Person, ihrer Motive, mit der Suche nach Einsicht selbst in einem Fall wie dem des Blut- und Boden-Dichters Richard Billinger, wo Chobot zeigt, dass er sehr wohl auch dezidiert vorgehen und zurückweisen kann; zugleich interessiert ihn aber das Phänomen des Plagiators, Opportunisten und Überläufers.
Chobot sucht ein Verständnis aus dem Kontext der Figuren, arbeitet prinzipiell multiperspektivisch unter Einbeziehung mehrere Quellen. Sein Interesse gilt dem Unorthodoxen und Nicht-Konformen, der keine Einnistung in gesellschaftlich sanktionierten Räumen sucht, sondern einen singulären Weg geht. Experiment, Selbstzweifel und Grenzüberschreitung auf der Suche nach dem Kunstausdruck stehen im Zentrum der Beiträge, sei es über den Fluxuskünstler Wolf Vostell, oder die „zustandsgebundenen“ Schriftkünstler, die Leo Navratil in den Siebzigerjahren zum Schreiben motivierte, über den performativen Poeten Christian Loidl in „Schamanismus als Poesie“, oder über Christine Nöstlinger mit ihrem Jugendbuch vom „Gurkenkönig“. Mitten drinnen findet sich aber auch ein handfester medienhistorischer Text über die Entwicklung und die genuinen Qualitäten des Hörspiels und seinen akustischen Sprach- und Imaginationsraum – Chobot produzierte an die fünfzig Radioarbeiten, Hörspiele und Features.
Mehre der Portraits beruhen auf langjährigen Freundschaften und Begegnungen, widmen sich den Künstlerfreunden Othmar Zechyr, Karl-Anton Fleck, Alfred Hrdlicka, Wolf Vostell, den Einstieg zu diesem Sammelband bilden aber Studien über weitgehend vergessene Autoren, deren Biographien im Chaos der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von ideologischem Changieren oder von Flucht und Emigration geprägt sind: Neben dem vergessenen Arthur Holitscher, dessen Bücher verbrannt wurden (38 Titel im Fischer-Verlag, 1941 hält Musil die Grabrede in Genf) finden sich der erwähnte Billinger, der Sprach-Berserker in seinen Wortungetümen Max Riccabona oder der vom Expressionisten zum Nazi, dann vom Widerständler zum Kommunisten mutierende Arnolt Bronnen, Freund Goebbels‘ und Brechts; und schließlich, vorangestellt der längste Beitrag zu Franz Jung: Expressionist und Schiffsentführer, Dadaist und Kriegsfreiwilliger, Deserteur und Mitbegründer der KAPD. Seine frühe Prosa und Theaterstücke entstehen durchwegs während seiner Gefängnisaufenthalte. Als promovierter Wirtschaftswissenschaftler führt er eine Zündholzfabrik in der Sowjetunion, schreibt darüber einen Roman, wird in Ungarn zum Tod verurteilt, gerät ins KZ Bozen, bäckt Kipferl in einem Dolomitendorf, verdingt sich als Börsenkorrespondent in den U.S.A., kehrt nach Deutschland zurück und verfasst den „Torpedokäfer“, seine Autobiographie.
Ablehnung der patriarchalen Sexualität und bürgerlicher Konvention zugunsten von Befreiungsidealen auf der Basis von sozialistischen Ideen, Eintreten für aktivierende Kunst und für Gemeinschaft, Suche nach einem neuen Lebensgefühl – so formuliert Jungs zweite Ehefrau Cläre die Positionen, mit denen Jung für die Achtundsechziger-Generation zentral wurde. Günter Herburger nannte ihn den „nachahmenswert störrischen und großartigen Franz Jung“, „Tausendsassa“ und „vielseitiger Überlebenskünstler“ (im „Spiegel“ 1972), und Chobot berichtet: „Um Geld zu verdienen, betreibt er die merkwürdigsten Geschäfte, verkauft etwa eine Getreide-Entmuffungsanlage, die der Vater des Dramatikers Ödön von Horvath erfunden hatte, nach Kopenhagen, oder vermittelt an tschechoslowakische Molkerei-Genossenschaften eine bulgarische Joghurt-Lizenz. Aus diesem Handel entstand der Central European Service, Verwaltungsratsmitglied war Winston Churchill.“
Jung wird zum Protoypen: Chobot faszinieren Verwicklungen und Ungreifbarkeit, Skepsis und Selbstzweifel, die Suche nach radikaler Veränderung ebenso wie die Komplexität des Scheiterns, das Rätselhafte der Figur. Es geht ihm um die Friktionen in einem Leben zwischen Subversion und Anarchie, um Gefühle und ihre Brüchigkeit, Rebellion und Auswege aus der Unterdrückung. Chobot fragt dabei weniger nach Motiven und Handlungsanlässen denn nach Versuchen und Zielen. Seine Essays wirken wie Kondensate, gehen ohne Umschweif auf das Wesentliche zu, machen die Essenz spürbar. Der Montage-Charakter, die Einarbeitung von Dokumentarischem, ihr O-Ton, könnte von Chobots Radio-Arbeit herkommen, die in der Schnitt-Technik ihren hohen Grad von Unmittelbarkeit erreicht.
Der Essayband lässt sich auch lesen im Kontext mit Chobots kurz zuvor erschienenem autobiographischem Roman „Reise nach Unterkralowitz“: Dominant dort die Figur des Großvaters, der im Ersten Weltkrieg in einem Gefangenenlager an der chinesischen Grenze umgekommen ist. So wie er sich in Widersprüchen posthum zeigt, hätte sich der Großvater ebenso auch einfügen lassen in die Sammlung der Portrait-Essays. Diese erweisen sich als veritable Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Gegenwart; ihre heimliche Schnittstelle liegt in der Sehnsucht nach der Utopie, einer „Heimat des Menschen“.