#Roman

Blauwal der Erinnerung

Tanja Maljartschuk

// Rezension von Kirstin Breitenfellner

Müssen sich Teile eines Romans gegenseitig beleuchten? Der erste Handlungsstrang von Tanja Maljartschuks Roman Blauwal der Erinnerung rekapituliert die Geschichte des polnisch-ukrainischen Historikers und politischen Philosophen Wjatscheslaw Lypynskyj, der zweite erzählt die Geschichte der Autorin, die einen Roman über Lypynskyj schreibt, eine Figur, die, wie sie beteuert, mit ihr nur drei winzige Gemeinsamkeiten hätte – darunter den Geburtstag. Beide erblickten am 17. April das Licht der Welt, Lypynskyj genau hundert Jahre vor Tanja Maljartschuk, Jahrgang 1983. „Wir sind so verschieden, sind einander so fremd, dass keine Erzählung uns verbinden könnte, wäre da nicht meine irrationale Sturheit“, heißt es auf der ersten Seite.

Der Roman ist die freieste Gattung, er unterliegt keinen formalen und inhaltlichen Vorgaben, und wenn eine Autorin es wagt, sich den Ansprüchen des Buchmarkts auf leichte Konsumierbarkeit zu widersetzen, gilt es zunächst einmal, ihrem Mut Respekt zu zollen.
Wjatscheslaw Lypynskyj wurde 1883 in Saturzi, Wolhynien, geboren, in einer Region, die oft die Staatszugehörigkeit wechselte und damals zum russischen Kaiserreich gehörte. Der Sohn einer katholischen polnischen Adelsfamilie hieß mit Geburtsnamen Wiaczes?aw Lipi?ski, entdeckte aber schon früh seine Leidenschaft für die Wiedererweckung der ukrainischen Nation, weswegen er sich in Wjatscheslaw Lypynskyj umbenannte.
Nach seinem Studium in Krakau und Genf lebte er, getrieben von Kriegen, Aufständen und seiner eigenen Unrast, in verschiedensten Orten, in Kiew, Dubno, Poltawa, Zakopane und auf seinem Gut in der Verwaltungseinheit Tscherkassy, bevor er im Juni 1918 als Botschafter des neuen ukrainischen Staats nach Wien geschickt wurde.
Nach dem Zusammenbruch der k.u.k. Monarchie 1919 kehrte er nicht mehr in seine Heimat zurück und entfaltete in Wien, Berlin, Reichenau an der Rax und zum Schluss im steirischen Badegg in der Nähe von Graz seine intensivste Publikationstätigkeit. Der beinahe zeitlebens Tuberkulosekranke starb 1931 im niederösterreichichen Pernitz. Da er Angst davor hatte, lebendig begraben zu werden, verfügte er, dass nach seinem Tod sein Herz durchstochen werden solle. Heute gilt Lypynskyj als ukrainischer Volksheld.

Seine Biografin Tanja Maljartschuk, die Icherzählerin des Romans, wurde im Iwano-Frankiwsk geboren, wo sie Literatur studierte. Später arbeitete sie als Journalistin in Kiew, 2011 emigrierte sie nach Wien, wo sie seither lebt. Sie hat bereits sechs Bücher veröffentlicht und gewann 2018 den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis.
Ihr Interesse für Wjatscheslaw Lypynskyj begann in einer Phase intensiver Angstzustände, unberechenbarer Panikattacken, die sie „Herz im Hals“ nennt. Ihnen geht Maljartschuk im zweiten Erzählstrang nach und begibt sich auf die autobiografische Suche nach deren Ursachen.
Der titelgebende Blauwal steht dabei für das Vergehen der Zeit und die Erinnerung. Das erste Kapitel endet mit einer programmatischen Zusammenfassung ihres doppelgleisigen Romanprojekts: „Ich befand mich im Bauch des Blauwals. Obwohl ich verschluckt worden war, hatte ich die Möglichkeit, meine Geschichte neu zu erleben. Meine und seine, die von Wjatscheslaw Lypynskyj. Meine Geschichte mithilfe seiner Geschichte. Ich musste nur so tun, als hätte niemand sein Herz durchstochen, als würde es immer noch schlagen. In meiner Kehle. Und ich beiße die Zähne zusammen, damit es ja nicht aus mir herausspringt.“

Ist dieses künstlerische Wagnis gelungen? Zum Teil, aber das liegt nicht an der mangelnden Erzählkunst der Autorin, sondern an der Wahl ihres Helden. Der lungenkranke und zutiefst unglücklich verheiratete Philosoph und Agitator, dessen glühender Nationalismus heute altbacken, wenn nicht gar gefährlich anmutet und der sich noch 1922 als Monarchist deklarierte, vermag als Kuriosum der Geschichte zu interessieren, aber kaum als Charakter. Seine Ansichten, ein Sammelsurium aus krausen geschichtspolitischen und biologischen Vorstellungen, die im Roman in unzähligen Briefen und Diskussionen Raum erhalten, bleiben bis zuletzt undurchschaubar. Und auch menschlich bleibt er hinter seiner Mission schwer greifbar.
Als Identifikationsfigur wenig geeignet, stellt er allerdings ein Medium dar, an dem sich die Icherzählerin abarbeitet, um nebenbei langsam, aber sicher zu sich selbst vorzudringen, zu einer intelligenten jungen Frau, die in destruktive Beziehungsmuster verstrickt ist, von zunehmend zerstörerischen Ängsten und Zwängen geplagt wird und sich zeitweise nicht mehr aus ihrer Wohnung traut. Die Passagen über die Technik des Bodenwischens, die sie von ihrer Großmutter Sonja gelernt hat, ihren Putzzwang und über die Großmutter selbst gehören dabei zu den stärksten des Romans.
Der Wendepunkt dieser Entwicklungsgeschichte ist erreicht, als die junge Frau eine Fremde darum bittet, die Rettung zu rufen – und schließlich eine Therapie beginnt, dank der auch ihre Familiengeschichte einen neuen Sinn für sie bekommt. Ihr Großvater, ein Bauer namens Bimmler, entschied sich bei der Zwangskollektivierung für das Sklavendasein eines Sowjetbürgers statt für den Heldentod, und der Icherzählerin wird klar, dass es auch sie selbst nur dank dieser Entscheidung gibt.
„Ich bin eine Nachfahrin von Unterordnung und Angst vor dem Tod. Auf mir lastet der Preis, der für das Überleben gezahlt wurde. Aufgrund der unbeglichenen Rechnungen war bereits einiges an Zinsen zusammengekommen, Ich musste langsam beginnen, meinen Schulden abzuzahlen.“
Der erste Ausflug der Angstkranken zum fünfhundert Meter entfernten Supermarkt dauert den ganzen Tag. „Als ich endlich nach Hause zurückkehrte, dämmerte es. Ich aß und lachte, aß und lachte.“
Vielleicht musste sich Maljartschuk mit der Wahl ihres Protagonisten Wjatscheslaw Lypynskyj so weit wie möglich von sich selbst entfernen, um sich schließlich wiederfinden und – sozusagen an ihm vorbei – diese so berührende wie beeindruckende Überlebensgeschichte erzählen zu können.

Tanja Maljartschuk Blauwal der Erinnerung
Roman.
Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2019.
387 S.; geb.
ISBN 9783462052206.

Rezension vom 09.04.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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