#Roman

Bitter

Ludwig Laher

// Rezension von Redaktion

Im Vergleich zum omnipräsenten historischen Roman, der mit einem geschichtlichen Hintergrund nur spielt, erfreut sich der Dokumentarroman, der es mit der Geschichte sehr viel genauer nimmt, der auf Faktizität setzt, verhältnismäßig geringer Beliebtheit. Das mag daran liegen, dass der Arbeitsaufwand für einen dokumentarischen Roman ungleich größer ist, und auch daran, dass das mühsam zusammengetragene Material beim Schreiben die eigene Phantasie einschränkt – Fakten geben viel vor. Und doch gibt es Stoffe, denen man wahrscheinlich tatsächlich nur – oder wenigstens am besten – dokumentarisch gerecht werden kann, bei denen man gar nichts herbeizuphantasieren braucht, bei denen man geschichtliche Realität nicht noch zusätzlich verdichten muss, um einen größeren Effekt zu erzielen als mit einer der Wahrheit verpflichteten journalistischen Reportage. Für den Stoff, den sich Ludwig Laher für sein neues Buch ausgesucht hat, gilt das mit Sicherheit: Bitter erzählt den Lebensweg eines NS-Kriegsverbrechers.

Der Mann, um den es geht, heißt im wahren Leben Fritz Kranebitter, im Buch nennt ihn Laher Fritz Bitter – um klarzustellen, dass es sich trotz genauer Dokumentation der faktischen Ereignisse dennoch um einen Roman handelt. Bitter, Jahrgang 1903, wächst im oberösterreichischen Innviertel auf, findet früh Gefallen an der NS-Ideologie und bringt es während der NS-Zeit als promovierter Jurist und Polizeibeamte dann auch sehr weit im nationalsozialistischen Machtgefüge: Der Gestapo-Chef von Wiener Neustadt wird bald zum Leiter der größte Gestapo-Dienststelle im deutschen Reich in Wien, bevor er nach Charkow in die Ukraine versetzt wird, wo er sich durch Massenexekutionen Lorbeeren verdient.
Härte lässt er auch im italienischen Gestapo-Hauptquartier in Verona walten, wo bereits der Kampf gegen die Alliierten begonnen hat. Dort fällt Bitter schließlich in englische Gefangenschaft, doch die kann dem blendenden Strategen nicht viel anhaben – ebenso wie die österreichische Nachkriegsjustiz. Bitter muss nach Kriegsende zwar, weil er zu früh die Seiten gewechselt hat, zu früh NSDAP-Mitglied geworden ist, wegen Hochverrats ein Jahr einsitzen, ihm wird der Doktortitel aberkannt und er wird mit Berufsverbot belegt, ansonsten kommt der hochrangige SS-Mann völlig ungeschoren davon. Die österreichische Justiz interessiert sich für Bitter kaum, der italienischen und der sowjetischen entwischt er aufgrund von Schreibfehlern im Nachnamen. Und so ist es vor allem Bitter selbst, der in der Nachkriegszeit aktiv vor Gericht zieht, auch den letzten kleinen Vorwurf der illegalen NSDAP-Mitgliedschaft auszuräumen, der seine ansonsten blütenweiße Weste stört.
Beruflich geht es Bitter bei der oberösterreichischen Brandschutzversicherung so gut, dass er den Verlust einer Beamtenlaufbahn verschmerzen kann, den Doktortitel hat er sich von der Wiener Universität zurückgeholt. Doch auch diesen letzten kleinen Makel zu beseitigen, gelingt ihm bis zu seinem frühen Tod 1956 nicht mehr.

In einem Nachwort bemerkt Laher, er habe „der Versuchung widerstanden, etwas dazuzuerfinden“. Das merkt man dem Text an, selbst für einen Dokumentarroman trägt er auffallend wenig romanhafte Züge. Lahers Fokus liegt auf der Dokumentation, über weite Teile der Erzählung werden mehr Fakten referiert als einzelne Szenen fiktional inszeniert. Das Romanhafte vermisst man als Leser zwar, aber ankreiden kann man es Laher nicht. Angesichts der Fülle des Materials und vor allem angesichts der Ungeheuerlichkeit des Stoffs ist diese selbstauferlegte Beschränkung als Autor nicht nur verständlich, sondern beinah unumgänglich.
Wenn einem erzählerisch mehr oder weniger die Hände gebunden sind, bleibt immer noch die Möglichkeit, als Autor bzw. Erzähler zu kommentieren. Hier schöpft Laher aus dem Vollen. Die Ausbrüche des Erzählers, der wie der Leser angesichts der Faktenlage über den Verlauf der Dinge nur so staunt, sich ärgert, sich die Haare rauft, sind denn auch zahlreich.
Einigermaßen gewöhnungsbedürftig bleibt der umständliche, bürokratische Ton, in dem der Erzähler räsoniert. Doch hat auch dieses Beamtendeutsch des Erzählers seinen guten Grund: Bitters „Weltaneignung“ soll „sprachlich abgebildet werden“, Bitters Schriftstücke riechen eben „fast ausnahmslos nach Kanzleisprache“. Laher begegnet Bitter absichtlich sozusagen mit gleicher Sprache, was zwar ungewöhnlich klingen mag, aber wesentlich dazu beiträgt, den Text zu einem lesbaren, homogenen Ganzen zu machen.

Im Großen und Ganzen mag alles allgemein bekannt sein, was Laher anhand der Lebensgeschichte des SS-Sturmbannführers Fritz Kranbitter alias Bitter präsentiert. Und doch entfaltet die Darstellung geschichtlicher Fakten anhand eines solchen Einzelschicksals in der Form eines Dokumentarromans noch einmal eine ganz eigene Kraft – wenn sie denn gut gemacht ist, so wie Lahers Bitter.

Ludwig Laher Bitter
Roman.
Göttingen: Wallstein, 2014.
237 S.; geb.
ISBN 978-3-8353-1387-3.

Rezension vom 01.02.2014

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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