#Lyrik

bildgebendes verfahren

Christl Greller

// Rezension von Michaela Schmitz

bildgebendes verfahren ist kein schönes Wort. Genauso wenig schön erscheinen uns die durch bildgebende Verfahren sichtbar gemachten Aufnahmen vom sonst unsichtbaren Innenraum unseres Körpers. Auch wenn Hans Castorp in Thomas Manns Zauberberg das Röntgenbild seiner und der Geliebten Brust mit sich herumträgt, als handele es sich um die Tomographie ihrer Seelen.

Poetische Röntgenbilder

bildgebendes verfahren nennt Christl Greller ihre lyrische Fotogalerie aus dem Körperinneren. Es sind vielfarbige Seelen-Polaroids, die die Autorin in einem wörtlich verstandenen „Poesie-Album“ zusammenstellt. Die bildgebende Technik ihrer Lyrik-Radiologie sind syntaktisch überwiegend intakte, reimlose Verstexte mit rhythmusgebenen Zäsuren und Zeilenfall, die sich in durchgängiger Kleinschreibung präsentieren. Bebildert werden die Gedichte durch Schwarz-Weiß-Illustrationen der Künstlerin Traute Molik-Riemer. Die Kohle- und Tuschzeichnungen zeigen Porträts von Frauen unterschiedlichen Alters.

Neben Röntgenaufnahmen aus dem weiblichen Gefühlsleben finden sich in Christl Grellers neuem Gedichtband impressionistische Genrebilder der Donaustadt und poetische Landschaftsaquarelle in unterschiedlichsten Jahreszeiten. Einblicke in die Seelen-Struktur der lyrischen Subjekte und deren Gefühlsleben spiegelnde Impressionen ihrer Umwelt ergänzen einander. Poetische Innenaufnahmen in Gedichten wie „selbstfindung“, „verstörung“ und „sein oder nichtsein“ finden sich neben Versen zum „waldviertelwinter“, zum „grenzstrom“ oder zu einer „kärntner sommer nacht“. Bei der ausführlichen Radiologie des Seelenlebens entstehen auch Liebesverse wie „du neben mir“, Zeit-Gedichte wie „die nirgendszeit“ und poetische Reflexionen wie „textarbeit“ und „sprachverlust“. In allen Gedichten geht es darum, mit dem „bildgebenden Verfahren“ der Poesie Unsichtbares sichtbar zu machen, ein möglichst vielschichtiges Röntgenbild der Identität des lyrischen Subjekts zu erstellen.

Bei ihrer poetischen Bewusstseins-Diagnose und komplementären Seelen-Topographie arbeitet die Lyrikerin vorwiegend mit klassischen rhetorischen Gestaltungsmitteln. Es finden sich Satzverkürzungen und Wortneuschöpfungen, Alliterationen, Wiederholungen und Variationen und expressive Metaphern. Dabei sind formal unaufwendigere Verstexte wie „dreiländerdonau“ nicht selten die dichteren.

Bemerkenswert ist die durchgängige Offenheit, mit der das lyrische Subjekt seine Innenwelt über poetische Röntgenbilder transparent macht. Stärker als die Einblicke ins Seeleninnere sind jedoch häufig die Ausblicke in die Natur, fein aquarellierte Verse über einen weißen Morgen oder malerische Variationen über einen Eissee.

Christl Greller bildgebendes verfahren
Gedichte.
Linz: Resistenz, 2009.
118 S.; brosch.
ISBN 978-3-85258-181-5.

Rezension vom 13.11.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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