#Prosa

Beweislast

Annett Krendlesberger

// Rezension von Alexander Sprung

Das Barbiepuppenspiel

Annett Krendlesberger sind Atempausen fremd, zumindest in ihrer Erzählung Beweislast. Von der ersten Seite an entwickelt sie ein Tempo, das sich – von reflexiven Momenten kaum berührt – darum bemüht, die Demütigungen, Gewalterfahrungen und falschen Rollenerwartungen der geschlechtlichen Sozialisation ihrer Protagonistin durchzudeklinieren. Bis ihr im letzten Drittel der Atem ausgeht.

Die Ich-Erzählerin ist schwanger. Und zwar von ihrem Vorgesetzten, dem Unternehmensberater Paul, der auf Betriebsausflügen auch einmal beinahe ertrinkende Frauen ignoriert, um seine Schwimmleistungen zu steigern. Die Rahmenhandlung von Beweislast setzt mit ihrer ersten (intimen) Begegnung mit Paul auf einem Betriebsausflug ein und endet mit der (unfreiwilligen) Eröffnung ihrer Schwangerschaft durch ihre Betriebskollegen und dem Besuch in einer Abtreibungsklinik. Sie kulminiert in den auf die Erzählerin einstürmenden Bildern vor dem Ambulatorium am Fleischmarkt: „Qi Gong, Tai Chi. Kung Fu. Intensivwochen. Geborgen in Gottes guten Händen (…) Daumen lutschende Föten in Fruchtblasen.“ (63)
Dazwischen, in der Binnenhandlung, wird in Rückblenden, oftmals sehr unvermittelt mitten im Absatz und das erzählerische Präsens nicht verlassend, ihr Leben aufgerollt; die (orale) Vergewaltigung durch einen Schulfreund, die Demütigungen durch ihre Mitschüler, der gewalttätige Vater, die auf ihr Leben als Hausfrau reduzierte Mutter, die ersten Begegnungen mit der Sexualität, das (falsche) gesellschaftliche Rollenbild, dem sie als Frau zu entsprechen glauben muss. Dieses Rollenbild ist das einer Frau, die das „Ja-Sagen“ internalisiert hat, vom Verfertigen der Hausübungen ihrer Mitschüler bis hin zum widerspruchslosen Akzeptieren der Gehaltsvorstellungen ihrer neuen Arbeitsstelle. Seite um Seite entwickelt Annett Krendlesberger das Bild einer Frau, die sich, und das ist die Pointe der Erzählung, erst mit dem Entschluss zur Abtreibung als selbstbestimmte Frau empfinden können wird, wenn auch der tatsächliche Akt der Abtreibung offen gehalten wird.

Beweislast ist auf Empörung und emotionale Betroffenheit angelegt. In parataktischen und die Syntax schon einmal über die Satzgrenzen hinweg sehenden Sätzen wird die Leidensgeschichte der Erzählerin durchdekliniert. Eltern, Freunde, Mitschüler, Arbeitskollegen, religiöse Fundamentalisten und zynische Neoliberalisten – niemand wird verschont, sie alle spielen ihre dunklen Rollen, entweder in der Rolle des Opfers oder des Täters, für Differenzierungen bleibt wenig oder kaum Platz.
Man bekommt beim Lesen den Eindruck, dass Beweislast sich beim Schreiben nicht genau zwischen einer individuellen weiblichen, notwendig partikulär bleibenden Biografie und einer gesellschaftlichen Typologie weiblicher Sozialisierung entscheiden möchte. Daher das eigenartige Phänomen, dass die Erzählperspektive einerseits einen sehr engen, beinahe subkutanen Fokus einnimmt (so werden z. B. semantische Bilder aus dem Umkreis der Nahrungsaufnahme, eines der Lebensthemen der Protagonistin, denen der Sexualität untergeschoben), während sozusagen hinter dem Rücken der Erzählperspektive ein typisiertes Personenarsenal von einer repressiven Gesellschaft Zeugnis ablegen will. Neben den angesprochenen „lachsfarbenen Ralph-Lauren-Hemden“ und dem „BMW“ des Unternehmensberaters Paul wären hier noch der „kaufmännische Leiter“ zu nennen, der „SUV“, den Pauls Vorgesetzter fährt, sowie das Urteil, dass dieser nur auf „Gewinnmaximierung“ aus sei. Der Vergewaltiger ist ein „Fußballer“ und hat „Hendlbrüste“, der Vater ist gewalttätig und die Mutter ist auf ihre Rolle „am Herd“ fixiert. Somit durchläuft Beweislast einige Klischees, die einem zu weiblicher Selbstbestimmungsliteratur einfallen. Einerseits erinnert der scheinbare Verzicht auf Stil- und Formfragen an Karin Strucks oder Verena Stefans feministische Romane der siebziger Jahre, sentenzhafte, zitierbare Passagen eingeschlossen („Füg dich ein. In die Weibchenrolle. Füg dich ein, ins Barbiepuppenspiel“). Andererseits schafft es Beweislast jedoch nicht, einen Mehrwert zu generieren, der über die emotionale Betroffenheit hinauswiese, die die Erzählung so meisterhaft zu schildern versteht.

„Beweislastumkehr“ ist übrigens der juristische Terminus für die Verschiebung der Beweislast auf die Gegenseite. Eben eine solche, mit dem Ziel, die repressiven, eine weibliche Selbstbestimmung erschwerenden Faktoren differenzierter zu benennen, hätte der Erzählung gut getan. Die Erkenntnisse, die Paul im letzten Drittel des Romans über seine Arbeit und gesellschaftliche Stellung gewinnt, sowie die Annahme des Geständnisses ihrer Schwangerschaft kommen leider zu unvermittelt und unmotiviert. Für die gelungene Beschreibung psychischer Ausnahmezustände und die motivische Partitur gibt es hingegen eine Leseempfehlung.

Annett Krendlesberger Beweislast
Erzählung.
Klagenfurt, Wien: kitab, 2011.
149 S.; brosch.
ISBN 978-3-902585-78-3.

Rezension vom 14.06.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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