#Roman

Bevor die Welt unterging

Kirstin Breitenfellner

// Rezension von Erkan Osmanovic

Jugend in den 80ern – Von Liebe, Waldsterben, Aids und Tschernoby.

„Die Poren waren riesig. Wie kleine Krater klafften sie in ihrer Haut. Judith brachte ihr Gesicht näher zum Spiegel. Hatte sie das früher nicht bemerkt? Früher hatte sie gar nichts bemerkt. Sie hatte geschlafen. Ihre Kindheit verschlafen und sich selbst keines Blickes gewürdigt.“ Doch nun schaut sie hin. Nicht nur in den Badezimmerspiegel. Nein, in die Welt hinaus. Wir sind in den 1980ern. Das bedeutet: Afghanistan-Krieg in der Ferne, MTV auf den Fernsehbildschirmen und der Walkman in der Hand. Irgendwo dazwischen: Judith. Mitten in der Pubertät – mitten in Deutschland.

Gemeinsam mit ihrer Freundin Birte macht sie sich auf zum richtigen Leben, kichert über Liebesbriefe ihrer Klassenkameraden und lernt wahre Enttäuschung kennen. So etwa als sie nach einem Besuch bei Birte ein Briefchen von ihr bekommt: „Dort stand in Birtes geradliniger Handschrift: »Wir wollen uns nächstes Schuljahr neben Jungen setzen, tut uns leid für dich, aber das ist im Moment wichtiger.« Wir, das waren Birte und Astrid. Es war Birtes Idee gewesen, das wurde Judith mit dem Schlag klar, der nun durch ihre Glieder fuhr, ihre Poren nach innen zog und ihren ganzen Körper verschloss.“ Doch nicht nur Judith wird enttäuscht. Auch Helmut Schmidt, der 1982 im Bundestag ein Misstrauensvotum verliert, wodurch Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanzler wird.

Die 1966 in Wien geborene Kirstin Breitenfellner blickt durch die Augen Judiths und stellt ihren Lebenslauf dem Lauf der Welt bei. Ihre Hoffnungen, aber auch ihre Ängste. So erlebt Judith zum ersten Mal Nähe mit einem Jungen: „Sie hielten einander im Arm, Hänsel und Gretel in einem Wald, der immer lichter wurde, zwei von vier Milliarden Hoffnungen, über die die Mächtigen nur lachten. »Ich weiß jetzt, warum man sagt, dass Liebe aus dem Herzen kommt«, sprach Anders‘ Stimme in Judiths Verzweiflung wie eine Nachricht von einem fremden Stern. Judith sah ihn erstaunt an. »Da ist so ein Druck auf dem Herzen«, sagte Anders und sah sie an mit seinen braunen Augen, voll Kindheit und Kummer, »so ein Druck, dass ich vor Glück am liebsten laut schreien würde.« […] Sie war so glücklich wie noch nie in ihrem ganzen langen kurzen Leben.“ Doch auch das ist endlich, wie ihr Schreckensbilder vor Augen führen: „In den Abendnachrichten sah Judith, wie britische Truppen bei Port San Carlos auf den Falklandinseln landeten, einem Archipel am Ende der Welt, um den gekämpft wurde, als ob der Frieden der Kontinente davon abhinge. Hatten sie jetzt Krieg? Zumindest im Fernsehen.“ Doch der Flimmerkasten interessiert sie nicht allzusehr. Sie und ihre Freunde erklären sich ihre Welt lieber durch Bücher, demonstrieren und suchen. Wonach eigentlich? Nach der ersten Liebe, der eigenen Zukunft und dem Sinn hinter all dem Chaos in der Welt.

Der Roman nimmt uns mit auf diese Suche: Von den persönlichen Niederschlägen hin zu den weltweiten Krisen. Das alles unterlegt mit dem Soundtrack der Achtziger. Mit Bevor die Welt unterging gelingt es Breitenfellner die Gedanken einer Heranwachsenden einzufangen, in eine leichtfüßige Sprache zu verpacken und in das große Ganze der Welt einzufügen.

Kirstin Breitenfellner Bevor die Welt unterging
Roman.
Wien: Picus, 2017.
240 S.; geb.
ISBN 978-3-7117-2053-5.

Rezension vom 19.09.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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