#Sachbuch

Bestseller

Jörg Magenau

// Rezension von Veronika Schuchter

Wissenschaft und Feuilleton gehen meistens Hand in Hand in ihrer naserümpfenden Verachtung für Bestseller, also für jene Bücher, die am häufigsten über den Ladentisch gehen (oder mittlerweile leider meist in den Warenkorb wandern) und von denen man zumindest annehmen kann, dass sie auch in großer Zahl tatsächlich gelesen werden. Was beliebt ist, muss trivial sein, und die Angst, dass das wenig prestigeträchtig Objekt das symbolische Kapital der Erforschenden bzw. der Besprechenden negativ beeinflusst, ist noch immer nicht ganz überwunden. Jörg Magenau hat sich davon nicht abhalten lassen, ein ganzes Buch dem Thema Bestseller zu widmen.

Magenau reflektiert seine eigene Abwehrhaltung gegenüber dem Begriff Bestseller, die er negativ mit Büchern verknüpfte, ohne sie jemals gelesen zu haben, und führt sie mit seinem Buch ad absurdum. Allein ein Blick auf die im Anhang angeführte Liste von Bestsellern zwischen 1945 und 2017 (nicht alle, nur jene, auf die Magenau Bezug nimmt), zeigt, dass Bestseller weit unterschiedlicher sind, als es die Verknüpfung mit Rosamunde-Pilcher-Schinken und pseudoschwedischen Brutalkrimis suggeriert. Die Bandbreite ist überraschend. Da findet sich Weltliteratur von Thomas Mann, Kafka und Grass genauso wie philosophische Klassiker von Erich Fromm oder Alexander und Margarete Mitscherlich, Autobiographisches von Helmut Schmidt und Konrad Adenauer, Kinderbücher wie Michael Endes Momo, populäre Sachbücher wie Julia Enders‘ Überraschungsbestseller Darm mit Charme und tatsächlich Triviales wie E. L. James Erotiktrilogie Shades of Grey. J. K. Rowlings Harry-Potter-Reihe und Hape Kerkelings Ich bin dann mal weg überraschen wenig, Hildegard Knefs Autobiographie Der geschenkte Gaul, die sich 1970 wie warme Semmeln verkaufte, schon eher. Natürlich war Knef damals ein großer Star und der Verlag fuhr eine geschickte, großangelegte Werbestrategie, doch das Leben der Knef und wie sie es darstellte traf auch einen Nerv der Zeit der Willy-Brandt-Ära. Dass ihr von der Kritik Mitläufertum vorgeworfen wurde, schadete dem Erfolg nicht, im Gegenteil, denn damit kritisierte man zugleich auch von oben herab moralisierend die Leserschaft.

Dass Texte wie Eugen Kogons Der SS-Staat oder Theodor Plieviers Stalingrad schon unmittelbar nach Kriegsende erschienen und zu Bestsellern avancierten (freilich unter den komplexen Publikations- und Distributionsbedingungen der Alliierten), weiß heute kaum noch jemand, es versetzt dem Narrativ vom Mantel des Schweigens und der Verdrängung der Schuldfrage indes einige Stiche: „Hatten wir denn nicht genug vom Krieg, wir Leser? Heißt es nicht, die Deutschen wollten von dem, was hinter ihnen lag, nichts mehr hören und wissen?“ (S. 16). Magenau leitet von Stalingrad überraschend über auf C. W. Cerams archäologisches Werk Götter, Gräber und Gelehrte, 1949 in bibliophiler und entsprechend teurer Ausstattung erschienen, das sich über Jahrzehnte in den Bestsellerlisten halten sollte. Der Erfolg des Altertumswerks steht nur scheinbar in Kontrast zu Plieviers Stalingrad, wie Magenau herausarbeitet. Dass sich die aus den Trümmern herausarbeitenden Deutschen mit historischen Ruinen beschäftigten, erscheint ihm nur logisch. „Vielleicht war die Auseinandersetzung mit Krieg und Zerstörung und Schuld nach der allerersten, direkten Konfrontation in Plieviers Stalingrad gerade jetzt eben nur so möglich: als Ausflug in ferne Zeiten und Kulturen, in denen das eigene Erleben sichtbar werden konnte, ohne allzu bedrängend zu wirken.“ (S. 23).

Magenaus Ansatz ist erfreulich unpaternalistisch: Er behandelt die vielgelesenen Bücher und ihre LeserInnen nicht von oben herab, sondern sieht und beschreibt sich immer als einen von ihnen. So skizziert er Bestseller als ein gesellschaftliches Bindeglied, das Diskurse anregt und so Gemeinschaft herstellt. Seine Auswahl versteht sich als subjektiv und repräsentativ zugleich. Magenau verknüpft seine eigene Lesesozialisation mit Bestsellern, anhand derer er eine kollektive Leserbiografie der Deutschen schreibt, abseits eines intellektuellen Kanons, wie er sich in Universitätsleselisten oder im Feuilleton findet. Die behandelten Texte mussten Debatten in irgendeiner Form angestoßen haben, außerdem wählte Magenau Werke aus, die ihn selbst auch beschäftigten. Am Ende dieser immensen Recherchearbeit steht das Ziel, anhand der Geschichte des Lesens eine Geschichte des Landes zu schreiben. Das sich über das Leseverhalten eine intellektuelle und emotionale Biografie der LeserInnen als Gemeinschaft schreiben lässt, ist nicht nur ein sehr schöner Gedanke, der die Bedeutung von Literatur in ihren verschiedensten Facetten, von der psychologischen Krücke bis zum Ort kollektiver Gedächtnisarbeit, hervorhebt, es ist auch ein äußerst fruchtbringender Ansatz, vor allem, weil Magenaus Beobachtungen nicht nur banal das Offensichtliche beschreibt, à la, Krimis sind Fluchtreflexe vor der Wirklichkeit, und weil er nicht nur Texte auswählt, die man ohnehin schon kennt und deren Rezeptionsmechanismen schon hinreichend erforscht sind. Dabei stellt er nie nur ein Werk ins Zentrum seiner Analyse, sondern spannt einen Bogen und zeigt Entwicklungslinien und Zäsuren auf. Den Themenkomplex Emanzipation und Frauenbilder beginnt er etwa mit Ute Erhardts Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin und landet mit Zwischenstation bei Alice Schwarzers Der kleine Unterschied und die großen Folgen schließlich bei Shades of Grey und Charlotte Roches Feuchtgebiete. Dass der Autor sich hier nur auf Bestseller bezieht, vereinfacht leider zum Teil, ist indes dem Thema entsprechend kaum vermeidbar. Natürlich sind Magenaus Interpretationen immer auch subjektive Deutungen, die man zum Teil auch etwas anders gewichten könnte. Doch insgesamt wirft er mehr Schlaglichter und verzichtet darauf, ein allzu stimmiges und kohärentes Bild zeichnen zu wollen. Magenau beschreibt seinen Ansatz so:

„Die Bücher, die wir liebten, haben scheinbar nichts miteinander zu tun außer der Tatsache, dass sie einmal in großer Zahl gekauft worden sind. Jedes einzelne steht für sich und seinen historischen Augenblick. In der Draufsicht aber bilden sie einen Flickenteppich, ein Muster, eine Struktur. Da gibt es Fäden, die sich der Länge nach durchziehen – die allgegenwärtige deutsche Geschichte etwa –, die durchkreuzt werden von den querlaufenden Fäden der wechselnden Moden und Stimmungen. Und es gibt die vielen Einzelheiten, die sich punktuell da hinein fügen. Jeder Punkt ist ein Leseabenteuer. Jede einzelne Lektüre ist im Gesamtbild aufgehoben. Wo viele von uns dasselbe Buch gelesen haben, entstehen die Knoten, die alles zusammenhalten.“ (S. 260).

Eine kleine Kritik sei doch angebracht: Der Untertitel „Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten“ klingt nach einem jener etwas reißerischen Texte, von denen man eher die Finger lässt. Sag mir was du liest und ich sag dir, wer du bist: Solch einfachen identitätspolitischen Fingerspielereien widmet sich der Autor dankenswerterweise nicht. Sein Interesse gilt der Ebene darüber. Magenaus Schlusswort „Bücher, die wir liebten“ ist ein implizites Plädoyer für die Literatur, es ist eine Liebeserklärung, nicht an die Bücher selbst, sondern an das Lesen als lebenslanger Prozess, der so viel Bedeutung in sich vereint, dass sich daraus ein gesellschaftliches Psychogramm erstellen lässt. Kulturpessimistisch könnte man die Frage stellen, wie lange die Literatur diesen Stellenwert noch behaupten wird können, oder ob ihre Funktion als gesellschaftlicher Seismograph schon längst Geschichte ist. Lieber halten wir es aber ganz kulturoptimistisch mit Magenau: „Ohne zu lesen, wären wir gar nicht da.“ (S. 262).

Jörg Magenau Bestseller
Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten.
Hamburg: Hoffmann und Campe, 2018.
288 S.; geb.
ISBN 978-3-455-50379-1.

Rezension vom 09.04.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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