Die Familie ist zerrissen zwischen Süd- und Nordtirol, wohin Johannes gezogen ist; außerdem zwischen dem politischen Engagement des Vaters und jenem Gregors, beide Lokalpolitiker, und dem absolut fehlenden Enthusiasmus von Johannes. Johannes leidet darunter, dass Gregor den Eltern immer mehr galt als er; daran hat sich nichts geändert. So ist auch Gregor derjenige, der im Haus seiner allmählich dement werdenden Mutter bemerkt, dass diese einige Jahrgänge von den Papieren, die sein Vater ein Leben lang aufbewahrt hat – Zeitungsausschnitte, Theaterprogramme, Ansichtskarten, auch Kinotickets –, in den Müll geworfen hat. Es scheint ein Geheimnis zu geben in der Vergangenheit des Vaters.
Johannes bekommt in Berlin die Gelegenheit, dieses Geheimnis aufzudecken. Es geht natürlich um eine Frau. Klara Hubmann hieß sie 1944. Johannes hat nun das vom Autor großzügig zur Verfügung gestellte Glück, dass Klara Hubmann immer noch so heißt, dass sie noch lebt, dass sie im Telefonbuch steht und dass sie geistig noch in Ordnung ist. Sie ist tatsächlich die andere Frau im Leben seines Vaters gewesen und Johannes spürt sie auf. Die damaligen Ereignisse in den Bombennächten Berlins waren so spektakulär nicht („staunend, dass es über die wenigen Stunden so viel zu sagen gab“), haben aber das Leben der jungen Klara und des jungen Südtiroler Soldaten Erwin nachhaltig beeinflusst. In Gesprächen ersteht der junge Mann von damals wieder auf – und mit ihm der alte, kranke Mann, der Sterbende.
Ja, allmählich verwandelt sich der Erzählte in einen tatsächlich Lebendigen, um in Berlin noch einmal im Krankenhaus zu liegen und zu sterben. Es gibt eine zweite Chance für Klara und Erwin, aber auch für den Vater Erwin und seinen Sohn Johannes. Johannes hat erst nach dem Tod des Vaters realisiert, wie wenig er von ihm wusste – wer schon einmal einen nahestehenden Menschen verloren hat, weiß, wie das ist; dieses grausam marternde Gefühl, etwas versäumt zu haben, ist fast unvermeidlich. Sepp Mall ist gnädig mit Johannes (nicht umsonst gibt es eine Orpheus-Szene), der seine zweite Chance allerdings vergeigt, und appelliert an die Leser: Redet mit den Lebenden, solange sie da sind. Denn normalerweise ist tot tot.
Sepp Mall ist ein behutsamer Erzähler und so unspektakulär er vom fast magischen Einbrechen in die Wirklichkeit berichtet – immerhin kehren die Toten sonst nur zu Allerseelen in Gedanken unter die Lebenden zurück –, so zurückgenommen und ohne Wertung denkt er auch über die Rollen nach, die manche in den Wirren der Kriegszeit und danach zu spielen hatten oder haben. Berliner Zimmer ist auch ein Generationenbuch über die die bloße Erinnerungsleistung hinaus, ein Väter-und-Söhne-Buch, ein Angebot an beide Seiten, die Motive der jeweils anderen nachzuvollziehen. Mehr noch als ein Buch über den Tod ist der Roman aber ein Buch über das Leben, über die Liebe und über den oft launischen Zufall, der bei den meisten Biografien Regie führt. Ein staunenswert gelassener Roman eines versierten Erzählers.