#Prosa

Bei mir Kind

Peter Reutterer

// Rezension von Alexander Peer

Der aus dem Waldviertel stammende Peter Reutterer legt mit Bei mir Kind ein Erinnerungsbuch vor, das den weiten Weg des mittlerweile pensionierten Lehrers und Autors aus Waidhofen an der Thaya bis in seine Salzburger Gegenwart skizziert. Die Skizze ist die dominierende Form. Diese Miniaturen entwerfen Streifzüge durch eine Biografie.

Persönliche Bekenntnisse mischen sich mit Erzählungen des ländlichen Lebens an der niederösterreichischen Peripherie und reichen bis in die corona-geplagten Tage. Im Zentrum stehen – wie schon in Reutterers 1997 erschienenem Prosadebüt „Forsthaus“ – die beiden Eltern. Diesmal erhält die Mutter mehr Platz in den Versatzstücken der Erinnerung. Sie wird literarisch noch einmal in Sprache gesetzt, 30 Jahre nachdem sie durch eigene Hand ins Schweigen eingetreten ist. Einmal heißt es, dass der Erzähler „irgendeine Ausgelassenheit der Mutter vermisst“. Als gebildete Frau mit Fantasie und Intellekt begabt, büßt sie beides mehr und mehr ein in der Enge der häuslichen Rollen als Mutter und Köchin. Die Empfindsamkeit der Mutter möchte der Autor bewahren, wenn er auf Seite 44 schreibt: „Von Beruf war meine Mutter Kindergärtnerin. Von Herzen war sie Kinderfreundin. Sie nahm die kindlichen Bedürfnisse ihrer Umgebung in die Hand.“

Obwohl ernste und die Familie prägende Themen das Buch durchziehen, gelingt es Reutterer, eine unverbildete Neugier und Freude zu bewahren. Hier will jemand seine Erlebnisse nicht verraten und wehrt sich gegen die drohende Verhärtung. Leicht ginge dies, folgte der Erzähler dem Vater, den eine Aura der Unnahbarkeit umgibt. Als Jäger und Forstverantwortlicher gehören Entscheidungen über Leben und Tod zum Alltag des Patriarchen. Als Familienernährer versteht er sich auch als Entscheider, ein wohl exemplarisches Rollenverständnis für viele Nachkriegsfamilien. Gerade im zur Übersensibilität neigenden Kind erscheint diese Vaterfigur bedrohlich. Es ist mehrmals von der „kleinen Figur“ des Vaters zu lesen. Die Anspielung auf den seinerzeit erfolgreichen Roman von Peter Henisch verrät auch ein wenig Eifersucht auf Kinder, die ihre Väter lieben können. Denn der Erzähler möchte seinen Vater lieben, dieser aber entzieht sich dieser Liebe und es gibt nur zwei Erinnerungen, in welchen der Vater weint und umarmt werden will. Aber in beiden Fällen sind die Kinder selbst schon lange Erwachsene und man ahnt, dass das Verpasste nie mehr heimgeholt werden kann. Wer Entscheidungen über Leben und Tod trifft, darf durch das Fühlen nicht unentschlossen werden, so könnte eine Formel lauten, die den Vater umklammert. Bedrückend wird diese Ohnmacht gegenüber Gefühlen vor allem dann, wenn Gemütserkrankungen die Familie heimsuchen. Sowohl die Mutter als auch der Bruder werden durch die fehlende Empathie noch fremder in einer Welt, die sich von Schwachen distanzieren muss. Ein besonderes Indiz für die Überforderung des Vaters ist der Umstand, dass er die Restauflage vom „Forsthaus“ aufgekauft hat, damit sie niemand anderer zu lesen bekommt. Dies und einiges mehr über lebenshemmenden Kontrollzwang offenbart der Band „Bei mir Kind“.

Auch wenn die Tonalität durch den leicht zugänglichen Stil und die anschaulichen Passagen durchaus Kindlichkeit simuliert, weist das Buch durch die literarischen Verweise eine zweite Ebene auf. Die persönlichen Erinnerungen werden durch Zitate ergänzt, kommentiert oder kontrastiert. Ob Hesse, Handke oder Houellebecq – es ist die Literatur der Türöffner für das Entdecken der Autonomie und die Überwindung ländlicher Starrheit: „Poesie bricht die Ketten des Kausalen und spielt unentwegt mit der Explosivität der Absurdität“, heißt es beim als Enfant terrible verschrieenen Franzosen.
Als „Enfant plausible“ hingegen entdeckt sich der Erzähler, wenn er zum „Geschlechtstier“ mutiert. Mit einfacher Offenheit zeichnet der Autor seinen Weg vom schüchternen Beobachter zum engagierten Tänzer nach, der über das Liebesspiel durchlässiger und in mehrfacher Hinsicht angreifbarer wird. Ein gesunder Protest gegen die väterliche Neurose, der dank der ruhigen und fürsorglichen Mutter gelingt.
Manche Formulierung ist etwas betulich, aber es überwiegt die sinnliche Faszination. Mit der Treue scheint es erst in der Ehe so richtig zu klappen, die auch nach Jahrzehnten noch als „wärmendes Lagerfeuer“ verstanden wird (S. 37).

Dem Text hätte allerdings ein genaueres Korrektorat gut getan, da sich einige leicht vermeidbare Fehler darin finden. Die kindliche Unerschrockenheit kehrt jedenfalls wieder im Alter, das naive Betrachten und Suchen darf sich entfalten. So lassen sich diese verstreuten Memoiren vom ersten Erwachen bis zum Abdanken aus dem Arbeitsleben interpretieren. Einfachheit als Orientierung zeigt sich auch in den literarischen Vorlieben und den philosophischen Haltungen. „Eine metaphysische Realität sollte aus einem einfachen Satz hervorleuchten“, heißt es auf Seite 53. Die Anstrengungen, die mit der Suche nach bahnbrechenden Ideologien und ihrer Umsetzung verbunden sind, verschwinden hinter dem Wunsch nach Versöhnung. Diesen Wunsch erfüllt sich Peter Reutterer mit diesem Buch selbst.

Peter Reutterer Bei mir Kind
Prosa.
Weitra: Bibliothek der Provinz, 2022.
116 S.; geb.
ISBN 978-3-99126-103-2.

Rezension vom 12.06.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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