#Sachbuch

Bausteine österreichischer Identität in der österreichischen Erzählprosa 1945-1949

Birgit Scholz

// Rezension von Kurt Bartsch

Eingeschliffene Sichtweisen zu korrigieren, sollte das alltägliche Geschäft wissenschaftlichen Unterfangens sein. Insofern ist es sehr begrüßenswert, dass in der vorliegenden Studie ein neuer Blick auf die österreichische Literatur unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geworfen wird. Es geht um die Frage, welche Funktion der Literatur bei der staatlichen Identitätsfindung zugeschrieben wurde, beziehungsweise darum, wie „Bausteine österreichischer Identität“ in erzählender Prosa dieser Phase thematisiert wurden.

Die Problematik der österreichischen Identität ist auch heute noch durchaus aktuell, wie sich in jüngster Zeit sowohl in der Literatur (beispielsweise in den Essays von Robert Menasse) als auch in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen (beim Historiker Gerhard Botz oder dem Philosophen Konrad Paul Liessmann u. a.) immer wieder zeigt, sie hat aber verständlicherweise die ersten Jahre der Zweiten Republik besonders bewegt. Nicht zuletzt am fehlenden Bewusstsein von der Möglichkeit einer eigenständigen staatlichen Identität Österreichs ist bekanntlich die erste Republik gescheitert. Birgit Scholz verfolgt dieses Ringen in österreichischer Erzählliteratur der ersten Nachkriegsjahre beziehungsweise den Beitrag dieser Texte zum Aufbau eines neuen Österreich-Bewusstseins in ihrer umfassenden Studie sehr detailliert.

Üblicherweise wird von den historischen Wissenschaften im Jahr 1947, mit der Währungsreform, der Installation der Sozialpartnerschaft und dem Beginn des Marshall-Plans, ein erster Einschnitt in der Geschichte Österreichs nach 1945 gesehen. Scholz verkennt auch nicht die Bedeutung dieser markanten wirtschaftlichen und politischen Ereignisse, setzt aber ihren Akzent etwas anders und schreibt, durchaus mit gutem Grund, der Nationalratswahl von 1949 (mit dem Anbiedern der beiden Großparteien ÖVP und SPÖ an die ehemaligen Nationalsozialisten) im Hinblick auf die Frage der Identität eine größere Bedeutung zu. Insgesamt erfasst sie „Die Situation in Österreich in den ersten Jahren nach 1945“ (Kapitel 2) und „die Bausteine der ’neuen‘ österreichischen Identität“ (Kap. 3) sehr genau, aber doch etwas zu ausführlich. Denn sie bietet zwar verlässliche Informationen auf Basis des aktuellen (literar)historischen Forschungsstandes, aber doch wenig Neues. Bekannt ist der Wille zum Konsens sowie die Abgrenzung von allem Deutschen und die Berufung auf die Moskauer Deklaration (zur Reinwaschung von Mitschuld an nationalsozialistischen Verbrechen), bekannt die Auffassung vom Nationalsozialismus als „Naturkatastrophe“ (mithin als billige Ausrede), bekannt die Tabuisierung des Austrofaschismus und die Verdrängung des Holocaust sowie das ignorante Verhalten gegenüber Opfern des Dritten Reichs, bekannt die Pflege des Lagerstraßenmythos (der in die demokratiepolitisch fragwürdige Sozialpartnerschaft mündete) und nicht unbekannt auch die Bedeutung der Hochkultur und das Anknüpfen an das eigene „große Erbe“ zuungunsten des Neuen, Modernen, Avantgardistischen in den Künsten. Das brauchte die Verfasserin nicht so ausführlich abzuhandeln. Am interessantesten erscheinen in diesem Abschnitt der Arbeit die Ausführungen über die „Landschaft“ als einen der Bausteine der Identität des Landes. Zurecht versteht Scholz die Bilder vom „schönen Österreich“ als Konstruktion und erkennt, dass sie denen der Landschaftsbilder aus der Zeit des Ständestaates und des Dritten Reiches auffallend gleichen und sowohl nach innen (Stolz auf das eigene schöne Land als ein „Baustein“ der Identität) als auch nach außen (gewinnbringend in der Fremdenverkehrswerbung) wirken. Genaueres würde man allerdings von der harschen Ablehnung der Emigranten (etwa durch den späteren Bundeskanzler Alfons Gorbach) erfahren wollen, vor allem darüber, wie sich das in Österreich im Vergleich zum westlichen Deutschland (man denke an die Diskussionen um Thomas Mann) darstellt. Mehr Augenmerk hätte Scholz auch auf die Auswirkungen der Tabuisierung von 1934 legen sollen, die bis in die unmittelbare Gegenwart im politischen Alltag spürbar sind. Sie hätte dabei beispielsweise auf Menasse rekurrieren können, der nicht müde wird hinzuweisen auf die Folgen der Verdrängung des Austrofaschismus, speziell auch im Hinblick auf die Identitätsfrage.

Ebenfalls korrekte Informationen und wenig Neues bieten die Ausführungen (Kap. 4) über „Institutionelle Voraussetzungen“, den Schulunterricht, den Literaturkanon etc. Das Herzstück der Arbeit ist aber auch zweifellos das 5., umfangreichste Kapitel, das dem Buch seinen Titel gegeben hat. In elf Abschnitten werden darin die unterschiedlichen „Bausteine österreichischer Identität“, wie sie sich in Erzählprosa der unmittelbaren Nachkriegszeit erkennen lassen, präsentiert. Sehr gelungen erscheint die Auswahl des Textkorpus. Insgesamt hat Scholz als Basis ihrer Studie 17 Erzähltexte ausgewählt, und zwar von zwölf Autorinnen und Autoren höchst unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung, von Bruno Brehm, einem Apologeten des Dritten Reichs auch noch nach 1945, bis zu Ilse Aichinger, einem Opfer des Nazi-Regimes, vom monarchistisch eingestellten Alexander Lernet-Holenia, der sich während der NS-Zeit ebenso wie die konservativ-katholische Alma Holgersen in die „innere Emigration“ zurückgezogen hat, bis zu den KP-nahen Margarete Petrides und Marie Frischauf, vom politischen Opportunisten Karl Heinrich Waggerl und den ständestaatnahen Kurt Frieberger und Ernst Lothar bis zu den Sozialisten Robert Neumann und Rudolf Brunngraber sowie Johannes Mario Simmel.

Diese breite Streuung in ideologischer Hinsicht eröffnet interessante Einblicke durch so noch nicht genutzte Vergleichsmöglichkeiten, lässt etwa ein sehr differenziertes Bild in der Position der verschiedenen Autorinnen und Autoren zur offiziellen These von Österreich als (dem ersten) Opfer Hitler-Deutschlands zu. Dabei überrascht weniger die Exkulpierung der Landsleute durch Autoren wie Lernet-Holenia oder Lothar als vielmehr das Einstimmen in die Opferthese durch die Kommunistin Petrides (die hinwiederum im Blick auf den Februar 1934 alles andere als harmonisierend, vielmehr erwartbar klassenkämpferisch erscheint). Die genretypisch verallgemeinernde Darstellung in der Literaturgeschichtsschreibung, die das Festhalten an der Opferthese oder die strikte Abgrenzung von allem Deutschen etc. in der Literatur der ersten Nachkriegszeit in den Mittelpunkt rückt, lässt kaum bewusst werden, dass sehr wohl auch andere Haltungen eingenommen beziehungsweise marginalisierte Themen angeschlagen wurden: das Mitschuldgefühl von Mitläufern an der Erniedrigung jüdischer Menschen oder – im Gegensatz zur offiziellen Politik – das „Verbrechen des Schweigens“, jenes im Roman Der graue Mann von Frischauf (Scholz korrigiert entschieden und zurecht diesbezüglich noch jüngst vertretene andere Forschungsmeinungen), dieses in Holgersens von religiösem Denken geprägter Großstadtlegende. Und fatales Schweigen aus Angst thematisiert auch Simmel in seinem Roman Mich wundert, daß ich so fröhlich bin, der zwar eine sozialharmonische („Händereichen im Luftschutzkeller“, ausgenommen gegenüber überzeugtem Nazi), aber auch strikt antinational(sozial)istische Haltung einnimmt.

Rassistisches Denken sollte in Österreich nach 1945 als überwunden gelten, propagiert man doch in der Tradition der Vielvölkermonarchie das Übernationale als Spezifikum des Österreichischen. Abgesehen davon, dass es mit anderen Vorzeichen als in der Nazi-Zeit die Spekulationen über einen (gegenüber dem deutschen dank Rassenmischung angeblich höherwertigen) österreichischen Menschen bestimmt, spukt es weiterhin nicht nur wenig überraschend in den Köpfen eines Brehm oder Frieberger, sondern auch eines Brunngraber und sogar eines Lothar (der selbst ein aus rassischen Gründen Verfolgter war). Was allerdings ausführlichere Beachtung durch Scholz verdient hätte, wäre Aichingers Verweigerung des rassistischen Diskurses und die Reaktion der Kritik darauf im Jahr 1948 (selbst das Ausbleiben einer solchen wäre aussagekräftig). Was die Bemühungen um die Definition des „österreichischen Menschen“ betrifft, so erfährt man aus der Studie von Scholz wiederum nicht viel Neues. Sie stehen in der Tradition nicht nur von Anton Wildgans, sondern schon von Hugo von Hofmannsthal, der allerdings merkwürdigerweise nicht erwähnt wird, obwohl dessen „Schema“ Preuße und Österreicher von 1917 bereits im Herbst 1945 in der ÖVP-nahen Zeitschrift „Der Turm“ gewissermaßen programmatisch für diese Definitionsversuche, aber auch für die Ausrichtung der offiziellen Kulturpolitik wieder abgedruckt wird – und sie treiben merkwürdige Blüten. Zu diesen gehören auch die absurden Bemühungen, 1000 Jahre Österreich (obwohl es 1946 tatsächlich erst 950 Jahre seit der ersten urkundlichen Erwähnung sind) gegen den Anspruch Hitlers auf ein immerhin nur zwölf Jahre dauerndes Tausendjähriges Reich zu setzen.

Der Wert der Untersuchung von Scholz liegt neben zahlreichen Informationen im Detail insbesondere in der angesprochenen Eröffnung von Vergleichsmöglichkeiten dank der klugen Textauswahl, die bestätigt, dass auch weniger bekannte Werke aufgearbeitet werden müssen, um der Literatur einer Epoche oder auch nur einen kleines Zeitabschnitts wie dem von 1945-1949 gerecht zu werden. Allerdings bietet das Buch keine wirklich neue Sicht der Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zudem ist es zu breit geraten. Über die ersten beiden Kapitel wurde gesprochen, sie sind verzichtbar, vor allem, weil im Hauptteil, dem Kapitel 5, vieles an Informationen aus den Kapiteln 2 und 3 wiederholt wird. Die Redundanzen ermüden. Dagegen vermisst man Vergleiche mit der westlichen deutschen Literatur (zum Beispiel stellt sich die Frage, ob es in Österreich auch so etwas wie „Trümmerliteratur“ gibt) und Ausblicke auf die fünfziger Jahre (in denen ja noch manches, wie die Vorliebe für Habsburgisches, Heimatliches und die Natur, gleich bleibt) sowie ästhetische Fragestellungen. Auch wäre ein Register sehr hilfreich, erscheinen doch die einzelnen Autoren und Autorinnen in unterschiedlichsten Zusammenhängen. Dafür hätte sich Scholz den absolut überflüssigen Anhang mit Biographien und Bibliographien sparen können. Sie sind fragmentarisch und auf den ersten Blick unzuverlässig – schon bei der Bibliographie zur ersten Autorin, Ilse Aichinger, fragt man sich, warum aus dem (von Ingeborg Drewitz herausgegebenen) Band Städte 1945 nur einer von drei Texten über Wiener Straßen angeführt wird, und der dann auch noch falsch: es muss natürlich „Ungargasse“ und nicht „Ungarngasse“ heißen. Im übrigen ist der Text nicht nur 1970 in der entlegenen Anthologie, sondern auch 2001 in Kurzschlüsse, einer von Scholz angeführten Sammlung von Kurztexten Aichingers, erschienen. Eine Lektorierung zwecks Straffung hätte dem Buch gut getan.

Birgit Scholz Bausteine österreichischer Identität in der österreichischen Erzählprose 1945-1949
Sachbuch.
Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag, 2007.
424 S.; brosch.
ISBN 3-7065-4218-0.

Rezension vom 15.01.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.