Die gebürtige Grazerin Ingrid Zebinger-Jacobi schreibt von Menschen, die keinen Halt mehr finden. In ihrem Leben, ihrer Beziehung oder gar ihren Gedanken. Sei es die Erzählung über eine Mutter, die ihr Kind im Garten spielen lässt und sich plötzlich in einem Zugabteil wiederfindet. Oder von einer Erzählerin in „Sie, der Geist“, die ihren Urlaub mit ihrem Freund verbringt – und einem Gespenst. Nichts schlimmes geschieht, oder doch? Der Geist kommentiert, belehrt und übernimmt schließlich ihr Leben. Der Freund? Nur mehr eine Erinnerung. Der Geist? Ihre Zukunft. Was bleibt? Unsicherheit.
In „Cara, lauf!“ erzählt Zebinger- Jacobi von einer Ausreißerin. Wovor sie wegläuft? Vor der Polizei, der Schule – oder gar Gespenstern: „Also war sie gelaufen. Dieses eine Mal hörte sie auf ihre Eltern./Sie werden dich holen kommen./Sie werden dich an den Haaren packen./Sie kommen./Sie kommen./Lauf“ Man läuft mit, findet sich im Park wieder, im Zug, auf einem Balkon. Schritt für Schritt, Seite für Seite spannt sich das Seil. Und dann – ein Stolpern: „Aber war es Caras Schuld? Dass sie trotzdem an ihn dachte? Den jungen Mann mit den Sneakers? Sie ließ ihn zurück, so wie er gefallen war.“ Clara verheddert sich in Bildern. Von ihr. Von einem Jungen. Von beiden: „Sie hatte ihm etwas gegeben. Einen Stoß. Als sie auf der Dachterrasse eine Zigarette geraucht hatten. Er war im Gras gelegen, tief unter ihr, im Dunkeln, sein weißes T-Shirt hatte geleuchtet.“ Das Seil ist wieder gespannt. Man schreitet von Tod zu Leben.
Auch in „Momentaufnahme“. Egon sieht ein Paar. In Venedig, mitten am Markusplatz. Warum er hier ist? Das weiß er nicht, aber er will sehen, wen er da beobachtet. Er versucht die Gesichter zu erhaschen, doch er scheitert. Sogleich wird die Verbindung zu den beiden gekappt: „Ein Abgrund tat sich auf, jenseits des posierenden Paares. Weit weg, wie durch eine staubige Glasscheibe hindurch, sah er eine riesenhafte Pflanze, vielleicht eine Palme. Hin und wieder gingen Riesen vorüber, sahen ihn an, nein, nicht ihn, das Paar, das selbstbewusst zurückblickte, so schien es Egon zumindest. Niemand sah ihn an. Er wusste nicht warum er da war.“ Inmitten dieser Leere eine Rettungsschnur in seiner Erinnerung. Nein, viele. Immer mehr und mehr. Die Schnüre sind Haare. Er erinnert sich: „An dunkelbraune Haare, lange Haare, Locken. Ein gewisses Blitzen in ihren Augen, wenn sie lachte.“ Risse tun sich auf. Etwas ist passiert: „Er war im Auto unterwegs gewesen, spätnachts oder frühmorgens, und wie müde er gewesen war. Dann war da ein Licht gewesen, ein Schlag. Kurz hörte er noch Sirenen, sah blaues Licht, strahlendes Licht.“ Egon gestorben? Lebendig? Oder gar dazwischen gefangen?
Die Figuren können sich nicht festlegen. Sie schwanken. Barfuß geht die Zeit erzählt von der Unsicherheit der Menschen. Gibt es Liebe? Gibt es Glück? Gibt es etwas nach diesem Leben? Zebinger-Jacobis Erzählungen gehen diesen Fragen nach, geben aber keine Antworten. Und doch scheint es eine Richtschnur zu geben für all die Übergänge: zwischen Tag und Nacht, Traum und Realität, Leben und Tod.