In der Langfeldsiedlung haben die Menschen keine Namen. Sie heißen „die Hinterhoffrau“ mit dem Kretin oder „der Einbeinige“, der nach seinem Unfall in der Papierfabrik entlassen wurde und dessen Frau seit ihrem Selbstmordversuch im Koma liegt. Auch die Mutter des namenlosen Erzählers kennt man hier im Block. Sie schicken ihm eine SMS, wenn sie es mal wieder nicht nach der Arbeit vom Absacker mit den Kolleginnen an der Tankstelle bis nach Hause geschafft hat. In der Wohnung trinkt sie weiter, bis sie auf dem Küchentisch im eigenen Erbrochenen einschläft, wo sie liegen bleibt bis zum Morgen. Hauptsache, sie lässt ihn in Ruhe; ihren Sohn, den sie im Suff ihre „Ballastexistenz“ schimpft.
Für ihn gibt es keinen Ausweg. Nur die Flucht: im Blick unterm Balkongeländer hindurch zum alten Italiener auf der Holzbank. Mit zurückgesunkenem Kopf starrt er in die Kronen der Pappeln hinauf und isst die wodkagetränkten Wassermelonenwürfel bis auf den Grund des Tellers, den ihm seine Frau jeden Tag bringt. Oder im Streunen: zum Obdachlosen auf dem „Friedhofserweiterungsgrund“, der in einem Schuhkarton alle Brillen aufbewahrt, die sich im Laufe seines Lebens angesammelt haben. Wenn er sie eine nach der anderen aufsetzt, „verschwimmt die Wirklichkeit zur Unkenntlichkeit, und er findet etwas von der Weichheit wieder, die die Erinnerung den Betten seiner Kindheit unterstellt“. Nachmittags stellt er der Friedhofkatze eine Schale Milch neben seinen Stuhl und fährt beim Streicheln manchmal versehentlich über den Katzenkörper hinaus seinen eigenen Unterarm entlang. Ein Bild, das den ganzen Schmerz lebenslang entbehrter Zärtlichkeit in einer bis zur Unerträglichkeit beiläufigen Geste konzentriert.
Der namenlose Junge kennt Gefühle nur im selbst zugefügten Schmerz. Wenn beim Umfassen der heißen Glühbirne die Haut verbrennt oder ihre Scherben die Innenhand zerschneiden. Liebe ist ein nicht fühlbares Wort. Liebe, das sind die weißen Flecken, die nach ihrem Selbstmord von den abgehängten Fotografien der Mutter an den Wänden zurückbleiben. Ihre Schnapsfläschchen, die überall in der Wohnung verteilt sind. Oder einer der Kassabons von der Tankstelle, auf deren Rückseite die Mutter Tagebuch führte, um sie danach zu verbrennen. „Wie schmeckt ‚ohne Aussicht‘?“ steht auf ihrem letzten Zettel.
Am Ende bleibt von ihr nur eine kurze Todesnachricht unter „Vermischtes“. Den Sohn holt die Fürsorge später in einem Krankenwagen, der nach Chlor riecht. Wie die Abfallcontainer vom Discounter, von dem die Mutter wegen ihrer Lungenentzündung gekündigt wurde. Chlor, um die nach Ladenschluss weggeworfenen Lebensmittel für die Armen der Langfeldsiedlung unbrauchbar zu machen. Chlor ist hier mehr als nur ein Wort. In der Sprache manifestiert sich die Selektion. Auch die Wörter bestimmen darüber, wer nie eine Chance bekommt.
Die Bitternis darüber kontert der Autor mit zärtlich genauen Sätzen über die „Zukurzgekommenen“. Im Erzählen gibt er ihnen eine Geschichte und damit ihre Würde zurück. Doch je mehr im Verlauf der Erzählung das tödliche Gift der sozialen Kälte die Menschlichkeit unterhöhlt, desto erstickender erscheint die Hoffnungslosigkeit. Genau das ist es, was der Autor mit seinem Buch will: Die totale Ausweg- und Perspektivlosigkeit soll beim Leser Trauer in Wut umschlagen lassen – frei nach dem seinem Roman vorangestellten Zitat der RAF-Terroristin Ulrike Meinhoff „Es ist überhaupt besser, wütend zu werden als traurig zu sein“.
Christoph Dolgans Sätze sind ein sprachlicher Terroranschlag von erschreckender Direktheit und Sanftheit zugleich. Als wolle der Autor mit seiner zärtlichen Beschreibung so sachte und achtsam wie möglich über die gnadenlose soziale Realität streicheln, um sie – wenigstens für einige Wörter lang – zu erlösen. Dolgans eindringliche, dichte Sprache zeugt von außergewöhnlicher Beobachtungsgabe und ist von einer poetischen Treffsicherheit und psychologischen Tiefe, die man in dieser Präzision und Reife bei einem so jungen Autor nicht erwartet. Dolgans Debüt Ballastexistenz ist ein dunkles, ein knallhartes, ein richtig gut geschriebenes Buch.