#Roman

Azzurro

Kurt Lanthaler

// Rezension von Karin Cerny

Tschonnie Tschenett ist überall und nirgends zu Hause. Gerade in der letzten Zeit packt den Aushilfs-LKW-Fahrer und Seemann das Fernweh immer häufiger. So bricht er in „Herzsprung“, dem vorletzten Tschonnie-Tschenett-Roman, aus seiner Heimat Südtirol nach Ostdeutschland auf. In Berlin angekommen, wird er prompt in den dort boomenden Zigarettenschmuggel verwickelt.

Doch eigentlich ist es egal, wo Tschonnie auch hinfährt, stets wird er aufs Neue in Verbrechen hineingezogen, mit denen er absolut nichts am Hut hat. Und jedesmal erfährt man als Leser erstaunlich viel über jenes Gebiet, in das es den Streuner Tschenett gerade verschlagen hat.

Azzurro, der mittlerweile vierte Band der Tschonnie-Tschenett-Romane, beginnt im hohen Norden, nahe Grönland, auf einem miesen, vorsintflutlichen Fischdampfer. Alles, woran sich Tschonnie erinnern kann, ist, daß er über Bord gegangen ist. Und nun soll ihm ein Mord angehängt werden. Er kann sich zwar glimpflich aus der Geschichte retten, Jahre später aber geht sein Temperament mit ihm durch, als ihm der dafür Verantwortliche erneut über den Weg läuft. Die Folgen sind ein siebenmonatiger Gefängnisaufenthalt. Danach hat Tschonnie erstmals genug von Deutschland. Ihn zieht es in den Süden.

Nach kurzen Zwischenstops in seiner Heimat, dem Brenner, und in Vincenzo, landet er in Triest. Tschonnie hat natürlich nichts dazu gelernt. Er heuert an der zweifelhaften splendid an, ohne so recht zu wissen, worauf er sich da wieder einläßt. Die Reise geht ins krisengeschüttelte Albanien, wo das Pyramidensystem der Banken das gesamte Land an den finanziellen Abgrund manövriert, wo korrupte Geschäftemacher an die Macht drängen, wo alle Anzeichen auf Bürgerkrieg stehen. Inmitten von Journalisten, die auf den ganz großen Coup, das Bild der Woche warten, und Flüchtlingen, die verzweifelt versuchen, sich nach Italien oder Griechenland zu retten, findet sich Tschonnie ungewollt im Zentrum eines Riesenbetrugs wieder. Eine Geldwäscherei im großen Stil.

Der Krimi-Serienheld Tschonnie Tschenett (betont auf dem zweiten e) ist zweifelsohne einer der coolsten Typen, die sich auf deutschsprachigem Gebiet in diesem Genre herumtreiben. Sein Schöpfer, der Südtiroler Autor Kurt Lanthaler, entwickelt sich von Band zu Band mehr zu einem der versiertesten Reiseführer durch die politischen und wirtschaftlichen Wirren in Zeiten der Umgestaltung Europas. Zigarettenschmuggel in Berlin, Krieg am Balkan, neue Techniken in der Hochseefischerei, die Auswirkungen von Schengen auf die Leute am Brenner – bei Lanthaler sind das keine Themen im Hintergrund, die bloß Atmosphäre für die Krimihandlung im Rampenlicht abgeben. Lanthaler geht es in seinen Krimis dementsprechend auch nicht um den schnellen Thrill, den spektakulären Mord, oder um Geschichten, die durchs Aufdecken schon erledigt wären. Ihn interessieren stets auch die größeren Zusammenhänge, die politischen Verwicklungen, die globale Dimension und deren Auswirkungen auf den Lebensalltag. Wie schlagen sich Vietnamesen in Berlin durch? Wie geht es in einem Land zu, in dem alle ans schnelle Geld wollen? Wie ist es, als Italiener in Deutschland zu leben? Damit ist Lanthaler einer der wenigen Autoren, denen das Kunststück gelingt, Coolness und Engagement als keine unüberwindlichen Gegensätze zu behandeln.

Kurt Lanthaler Azzurro
Ein Tschonnie-Tschenett-Roman.
Innsbruck: Haymon, 1998.
203 S.; brosch.
ISBN 3-85218-276-X.

Rezension vom 30.09.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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