#Roman

Autobus Ultima Speranza

Verena Mermer

// Rezension von Veronika Hofeneder

Nach ihrem vielbeachteten Romandebüt die stimme über den dächern (2015) hat die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin Verena Mermer nun mit Autobus Ultima Speranza ihren zweiten Roman vorgelegt. Dieser verhandelt in kaleidoskopartiger Sichtweise die Schicksale osteuropäischer ArbeitsmigrantInnen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen in Westeuropa ihr finanzielles Glück versuchen und sich anlässlich des bevorstehenden Weihnachtsfestes zum Besuch von Heimat und Familie aufmachen. Als verlässliches und kostengünstiges Transportmittel dient der Reisebus des rumänischen Unternehmens mit dem verheißungsvollen Namen SPERANZA, der die Route Viena – Oradea – Cluj fährt.

Gelenkt wird der Bus von Ioan bzw. Adrian, deren unterschiedliche Lebenskonzepte sich auch in ihren Fahrstilen bemerkbar machen: Adrian sieht sich selbst „als die bessere Variante des älteren Kollegen. Schlank und groß gewachsen, flexibler mit den Dienstzeiten und lockerer im Umgang mit den Passagieren“ (10). Aufgrund seiner rasanten Fahrweise wird er vom umsichtigen Ioan gefragt, „ob sein Leben wirklich so trist sei, ob es denn nicht verantwortungsvoller wäre, den Selbstmord auf einen Zeitpunkt zu verschieben, an dem er keine dreiundvierzig Menschen mitnähme.“ (59) Während Ioan sich die häuslichen Weihnachtsvorbereitungen vergegenwärtigt, erregt sich Adrian an der Vorstellung seiner wegen der nicht regulierbaren Heizung nackt in der Wohnung umherlaufenden Freundin und konsumiert zwischendurch auch einmal einen Porno. Er erstellt für sich eine Hierarchie der Tätigkeiten seiner Fahrgäste, in der er die des Busfahrers unter die Arbeit in einer Fabrik, aber über jene auf dem Schlachthof stellt. Hier ist Tudor untergekommen, der seine hochfliegenden Träume, Astronaut zu werden, zugunsten der bodenständigeren Arbeit des Zerlegens von Tieren begraben musste: Immerhin ist er inzwischen bei den Rindern gelandet, was er im Vergleich zu den Hühnern als erträglicher empfindet: „Aber die Frage, ob er noch kann oder ob ihm alles zu viel wird, stellt sich nicht. Er muss können, pro Arbeitstag zwölf Stunden schlachten oder zerlegen.“ (141) Wegen einer Autopanne mit an Bord des Reisebusses ist auch Isabella, die in Deutschland als Kinderärztin praktiziert und damit ihren mit den beiden Töchtern in Rumänien verbliebenen Mann finanziell erhält. Lieber würde sie zwar in Rumänien arbeiten, doch das korrupte und schlecht ausgestatte Gesundheitswesen in der Heimat lässt ihr keine (auch finanzielle) Alternative. Ein neues Arbeitsfeld hat sich Diana gefunden: Die studierte Psychologien jobbt in Österreich als Putzfrau und muss sich damit begnügen, die Wohn- und Lebensgewohnheiten ihrer ArbeitgeberInnen zu analysieren. Lumini?a wiederum arbeitet als Haushälterin und Kindermädchen, während ihr die eigenen Kinder, die bei ihrem Mann in Rumänien leben, zunehmend fremd werden. Den ehelichen Geschlechtsverkehr und die Vorwürfe, dass sie sich aus der mütterlichen Verantwortung stehle, obwohl die Familie ohne ihr Gehalt finanziell nicht über die Runden kommen würde, erträgt sie nur der Kinder wegen: „Er sieht nicht, dass sie auch leidet unter ihrer eigenen Abwesenheit. ‚Du hast kein Monopol auf Gefühle‘, will sie ihm dann jedes Mal an den Kopf werfen. Laut mit ihm streiten. Aber die zwei Kleinen schlafen. Also schluckt sie die Wut.“ (148)

Diese Vielzahl von Schicksalen präsentiert Mermer in ihrer charakteristisch pointierten, oftmals lakonischen Sprache: Der kleine Körperwuchs von Florin wird als Vorteil in den beengten Raumverhältnissen eines Reisebusses erwähnt und die von Berufs wegen schlanke Erzsébet (sie arbeitet als Model) friert stets, denn „wenig zu essen macht kälteempfindlich, aber dick sein lässt die Aufträge ausbleiben“ (68). Diese pragmatischen Äußerungen werden immer wieder mit poetischen Bildern gekoppelt; so zieht Florin, der als Erntehelfer arbeitet, Parallelen zwischen Pflanzen und Menschen und fragt sich „ob der Mensch Luftwurzeln schlägt, wenn er zu lange weg ist.“ (77)

Der Roman ist als multimediales Gesamtkunstwerk konzipiert: In den vielstimmigen Erzähltext sind Sequenzen aus Filmen und Computerspielen einmontiert sowie auch zahlreiche Songtexte, die im Anhang – quasi als Soundtrack zum Buch – aufgelistet werden. Diese medialen Einspielungen untermalen und rhythmisieren die Fahrt im Bus von Wien nach Cluj akustisch und visuell. Typographisch heben sie sich von der Erzählebene ab und bilden in Kombination mit dem sich über das gesamte Buchcover erstreckenden farbenfrohen Reisebus ein ästhetisches Erlebnis auf außertextueller Ebene. Und textintern treten die Figuren mit diesen Elementen in Beziehung und gewinnen durch die Fremdheits- und Heimatlosigkeitserfahrungen von E.T. oder die Situation der ArbeitsmigrantInnen auf der Titanic zusätzliche Kontur. Verena Mermer verwebt in diesem Roman viele unterschiedliche Stimmen zu einem vielschichtigen Erzähltext und bringt damit ein brisantes Thema der sozialpolitischen Realität eindringlich wie kunstfertig zur Sprache.

Verena Mermer Autobus Ultima Speranza
Roman.
Salzburg, Wien: Residenz, 2018.
200 S.; geb.
ISBN 9783701716999.

Rezension vom 20.11.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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