#Anthologie

Austropilot

Hanno Millesi, Xaver Bayer (Hg.)

// Rezension von Ursula Ebel

Einer Vorgabe verschrieben sich die beiden Wiener Schriftsteller Xaver Bayer und Hanno Millesi bei der Zusammenstellung der Texte für ihre Anthologie „Austropilot“: Die Auswahl der Beiträge aus österreichischen Literaturzeitschriften der 1970er-Jahre habe auf subjektiven Gesichtspunkten zu beruhen. Grundlegende Herangehensweise war somit die weitgehende Vernachlässigung des österreichischen Literaturkanons sowie der Prominenz der Autorinnen und Autoren zugunsten „gute[r] Texte“ (S.5). Dank dieses Konzepts finden sich in der Anthologie einerseits Beiträge renommierter Literat/innen, unter anderen Erich Hackl, Friederike Mayröcker, Peter Rosei und Jutta Schutting sowie andererseits weit weniger bekannter Autor/innen wie Paul Fröhlich, Gerhard Hanak und Margit Zadrovics.

Die literarische Zeitschriftenlandschaft Österreichs in den 1970er-Jahren war vielfältig. Denn auf konservativ-restaurierende Tendenzen der 1950er- und 1960er-Jahre folgte eine Phase kulturpolitischen Aufbruchs. Die sozialistische Regierung förderte eine Vielzahl kultureller Initiativen. Dieser Umstand war ausschlaggebend dafür, „dass die Landschaft auf Literatur bezogener Zeitschriften in Österreich im Verlauf der 1970er-Jahre vorübergehend auf annähernd 130 verschiedene Publikationen anwächst.“ (S.171) Ein weiterer bestimmender Faktor für diese immense Vielfalt an Periodika war die ansteigende Verfügbarkeit des Matrizendruckers. Aus dieser Vielfalt an Literaturzeitschriften ist im „Austropilot“ natürlich nur ein Ausschnitt vertreten, darunter „Das Erlenblatt“, „Das Fenster“, „das pult“, „Die Klinge“, „Eselsohr“, „Frischfleisch“, „Löwenmaul“, „Neue Wege“, „Projektil“, „Protokolle“ und „Wortmühle“. Einige der aufgenommenen Beiträge wurden in bis heute existierenden und renommierten Blättern wie „Die Rampe“, „Manuskripte“ oder „Wespennest“ abgedruckt. Das Credo der Herausgeber, bekannte und unbekannte Stimmen aus den 1970ern zu Wort kommen zu lassen, trifft somit auch auf die Auswahl der Literaturzeitschriften zu.

Der Austropilot stellt nicht nur einen Katalog deutschsprachiger Autorinnen und Autoren eines Jahrzehnts dar, sondern ist ebenso eine Sammlung vielfältiger literarischer Formen. Neben autobiografischen Texten, Berichten, Kurzprosa und fantastischen Erzählungen finden sich traditionelle und experimentelle Lyrik. Die über 60 Texte stehen in dieser Anthologie klar im Vordergrund, das Verzeichnis der Autor/innen fällt deshalb sehr knapp aus. Lediglich die Geburts- und fallweise die Sterbedaten werden angegeben.

Neben den literarischen Formen sind auch die eingenommenen Perspektiven der Protagonist/innen in den Texten vielfältig. Das Gedicht „A LA ZAPPA“ von Ernst Weiss beginnt mit folgenden Verszeilen: „Gebückt stehst du am Tresen, / Zug um Zug leerst du dein Bier, / der Bart ist schon lange nicht mehr nach Zappa, / die Haare berühren im Nacken / – gerade noch – / dein Kärntnerstraßenhemd.“ (S.18) Das lyrische Ich klagt in den folgenden Strophen die konservative Lebensweise des einst rebellischeren Dus an. Doch nicht nur das angesprochene Du zieht ein „gepflegt[es] Wienerwald-sit-in mit Hendln und Bier“ (Ebd.) Zappa samt Körperkult vor, sondern die gesamte Generation des Dus gerät in die Kritik. Somit würden einstige Janis Joplin Verehrerinnen nicht mehr ihr Idol zu imitieren versuchen, sondern vor den Volksschulen auf ihre Kinder warten, bevor der Nähkurs am Programm stehe. Die Kritik am Verrat der einstigen Ideale und Lebensweise zugunsten eines gut situierten Lebensstils samt „Kärntnerstraßenhemd“ und „Wienerwald-sit-in“ ist zeitlos, überraschend aktuell wirkt aus heutiger Sicht die ironische Bemerkung hinsichtlich der Nähkurse als optimales Freizeitprogramm.

In dem Gedicht „Vor dem Gedicht“ von Jutta Schutting gibt ein lyrisches Ich Aufschluss über die Produktion von Lyrik. Es tritt in indirekter Form auf: „vor dem leeren Blatt plötzlich das Unvermögen, einen ungedeckten Platz / zu überqueren, und zugleich vor der imaginären Meereskarte / die Aufforderung, eine noch unentdeckte Insel einzutragen.“ (S.75). Schlussendlich wird ein Wort in einem Gespräch „als zweites Wort der dritten Zeile“ (Ebd.) identifiziert und macht die Erschließung der restlichen Verszeilen möglich.

Klaus Wohlschaks Gedicht „DIESER TAG GEHÖRT UNS“ führt ein Wechselspiel der Perspektiven ins Treffen. Das klar strukturierte Spiel von Ich und Du gibt den Rhythmus des Gedichts vor: „ich fahre ins büro / du bringst dolores in den kindergarten / ich telefoniere / du liest ein gedicht von handke“ (S.10). Tägliche Abläufe und Handlungen der beiden Personen werden gleich einem Pingpongspiel gegenübergestellt. Eine kurze Prosa ohne Titel von Elfriede Czurda ist hingegen streng in Du-Form gehalten. Sie handelt von einer fantastischen Reise durch den Dschungel, die Geschichte schließt mit den Worten: “ (…) und findest dich im garten einer mühle in horn niederösterreich nahe der tschechischen grenze.“ (S.38) Träume, Sehnsüchte und Ängste stellen zentrale Sujets in den Beiträgen im „Austropilot“ dar.

Ängste und Verzweiflung prägen auch den Protagonisten in Georg Danzers Prosa „TAGEBUCH – Anwärter auf ein unvollendetes Leben“. Die Ich-Figur liegt im Bett und denkt an das Netz, das die Angst „[z]wischen dem Moment, in dem man die Beine anzieht, um sich in den neu zu lebenden Tag hinauszukatapultieren und jenem Augenblick, wenn man mit nackten Füßen auf dem Boden landet“ (S.56) spannt. Neben diesen Zuständen der Verunsicherung bilden Wochenendtage eine Konstante im vorliegenden Band, ersichtlich bereits an den Titeln folgender Gedichte: „SAMSTAGABENDBEISPIELE“ von Erwin Einzinger, „Sonntagvormittag“ von Hansjörg Zauner und „Sonntag Nachmittag in Wien“ von Margit Zadrovics sowie folgender Kurzprosa „Sonntag in der Provinz“ von Georges Hausemer.

Bei all den vielfältigen Stimmen und Erscheinungsformen der Texte ist vielen Beiträgen gemein, dass sie eine Atmosphäre der 1970er-Jahre einfangen. Somit bilden Velvet Underground (in „Vinyl“ von Peter Rosei), Frank Zappa (in „A LA ZAPPA“ von Peter Weiss), Pink Floyd (in einem Gedicht ohne Titel von Margit Zadrovics) und die Rolling Stones (in „Das Lächeln am Fuß des Entzugs“ von Ernst M. Binder) musikalische Ankerpunkte. Bunte Leuchtreklamen, grelle Beleuchtung und laute Beschallung beeindrucken und stören mitunter die Protagonist/innen. In „beim anblick des sees“ von Franz Kornberger zeigt sich der/die Protagonist/in irritiert und sinniert „in der ganzen stadt die lichtreklamen zerstoeren, um wenigstens in der nacht wortlos sein zu koennen.“ (S.19) Ähnlich ergeht es einer Figur im Gedicht „BERLIN-WEST“ von Michael Lindner: „Das ist alles nicht unbedingt so / wie ichs mir wünsche / […] ein Haufen künstlicher Geräusche / der Blues aus den Currywurst-Buden“ (S.128).

Mit Verwunderung stellt man fest, dass manche bekannte literarische Stimmen in der Anthologie nicht vertreten sind. Mitunter tauchen sie jedoch in den Texten selbst auf. In Gerald Bisingers Gedicht „Gestern ein Abend oder von gestern“ hält sich das lyrische Ich in West-Berlin auf und erinnert sich „vor Jahren saß ich bei Köpke mit / Artmann wir tranken doppelte Klare und / Bier und der Meister weinte vor Rührung / wenn aus der Music-Box unser Radetzky- / marsch lärmte“ (S.113).

Die Anthologie Austropilot bietet mehr als man zu Beginn sucht und erwartet. Auf die Erkenntnis der pulsierenden österreichischen Produktion von Literaturzeitschriften in den 1970er-Jahren folgt ein vielfältiges Kaleidoskop an literarischen Formen und Stimmen. Die Herausgeber verweigern dank ihrer subjektiven Auswahlkriterien Leser/innen die Vorstellung einer homogenen deutschsprachigen Literatur. Der „Austropilot“ bildet somit ein Gegenstück zum „Austrokoffer / Landvermessung, einem repräsentativen Best-of der österreichischen Literatur aus dem Jahr 2005/2006. „Austropilot“ präsentiert das Best-of der Lektüren von Xaver Bayer und Hanno Millesi und hält dadurch einige (Neu)- Entdeckungen parat, wie beispielsweise jene von Margit Zadrovics. Das Gedicht „Sonntag Nachmittag in Wien“ beginnt mit folgenden Zeilen „ein stück kalbsleiche nennt man schnitzel. / die ganze stadt rülpst. / es steht fest. / kindergeschrei kann den sonntag verhindern. / am sonntag hat man keine meinungen.“ (S.29)

Hanno Millesi, Xaver Bayer (Hg.) Austropilot
Prosa und Lyrik aus österreichischen Literaturzeitschriften der 1970er-Jahre.
Wien: Edition Atelier, 2016.
173 S.; brosch.
ISBN 978-3-903005-20-4.

Rezension vom 27.09.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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