#Prosa

Aus der Fischwelt

Mario Rotter

// Rezension von Thomas Eder

Der 1959 geborene Mario Rotter war ein Dichter, dessen schmales, bis zu seinem unerwarteten Tod (1995) publiziertes Werk in einem eklatanten Mißverhältnis zur Fülle seiner poetischen Produktion stand. Nun, in der Publikation des ersten Bandes der Werkausgabe aus dem Nachlaß durch Ralph Klever und Christiane Swoboda, zeigt er sich als ein – metaphorisch gesagt – „Dichter des Dichters“, dessen widerstrebende, nahezu angeekelte Umkreisungen des Poetischen ihr ausschließliches Sujet dennoch in einer Bezugnahme auf sich selbst als Schreibenden und auf dessen Erleben als ein zu Schreibendes finden.

Ganz in der Art großer Tagebuchliteratur vollzieht Rotter in den von den Herausgebern mit viel Kenntnis und Sensibilität geordneten Unterkapiteln („Tagebuchroman-Fragment“, „Sprachphilosophische Texte“, „Poetologische Notizen“) eine ausweglose Bestandsaufnahme der Welt, wie sie dem Dichter erscheint, oder, radikaler gewendet, wie er sie sich erschafft, wenn er z. B. die hochsommerlichen Hundstage in seinem „Esterházygassenzimmer“ zum Roman einer nicht gemachten Reise in den Süden (Italien, Südamerika etc.) auslaufen läßt.

Aber dieses Schaffen ist im Rotterschen Kosmos keineswegs ein hoffnungsfrohes, keines, das mit positiven oder negativen Utopien gleich welcher Provenienz kokettiert oder eine einmal gefundene Manier (z. B. die des Misanthropen) folgenlos und marktgängig abspult. Rotters „Selbsterfahrung des schreibenden Individuums als Leidendes“ ist eine „vollständige Negation ohne Utopie“, so total, daß sie sich selbst der Kehrseite des Aberwitzes und des auf die Spitze getriebenen Zynismus nicht durch ein frühes Haltmachen vor Tabubezirken verschließt, und das Beziehen einer Position, ob dafür oder dagegen, per se in Frage stellt.

Kulturhistorisch interessant ist Rotters Einschätzung der „feministischen ideologie“ Dorothea Zeemanns als „verunmöglichungsstrategie“ (Rotter hat sich einige Zeit in Zeemanns Umfeld befunden, und sie taucht als „Dora“ und als „pornographische schriftstellerin zetmann“ im Buch immer wieder auf).

Zu Beginn seines Tagebuchroman-Fragments beklagt der Philosoph Rotter den paradoxalen Umschlag eines permanenten Arbeitens gegen sich selbst hin zu einem dadurch in Gang gesetzten Kalkül zu eigenen Gunsten, „als wäre gegenüber aller Inszenierung des Unglücks ein Restglück resistent“. Seinen unablässig wiederholten und existentiell wohl auch erfahrenen Reflexionen („Widerstand des Leibes gegen die vorbeifliegenden Ereignisse“) hat Rotter – übrigens auf eine Anregung seines Doktorvaters Michael Benendikt hin, bei dem er über Descartes promovierte – als „Aktionskünstler“ Anschauungsmaterial geliefert: ein präziser und unprätentiöser editorischer Anhang zur Vita des Autors erschließt seine Aktivitäten als Gründungsmitglied der Gruppe „PKW“ (Politik, Kunst, Wissenschaft), die vom Tragen der Socken Doderers bis zu halsbrecherischen Autofahrten durch Wien oder zur elektrisch verstärkten Rezitation von Hitler-Reden („Wollt ihr Hitler, so könnt ihr Hitler haben“) reichen.

Oft ist in den Rotterschen Selbstbeobachtungen, die ein vorbehaltloses „Schaukelgelenk zwischen Drinnen und Draußen“ präzise bewegen, von seinen Erfahrungen mit der staatlichen Psychiatrie die Rede, Versatzstücke aus psychoanalytischen Philosophien (die Abwesenheit des Vaters, das Leiden am Universum der Mütter) werden zitiert und deren Gültigkeit für eine Erklärung des Zustands dieses Einzelnen, der der Autor in diesem Moment ist, wird bezweifelt: „Und wie gesagt, ginge es darum, nicht aus, sondern trotz der Anormalität zu schreiben […].“ Und: „Was interessieren Irrläufe, wenn sie nicht von einer Warte aus geschildert werden, von der aus es keine Irrläufe mehr gibt.“

Die daraus erwachsenden Rundumschläge gegen die Philosophie der Jahrhunderte erfolgen nicht oder nur ganz selten, aus jugendlicher Kraftmeierei; vielmehr sind es der tiefe Zorn, die „Rage“, die den (nietzscheanischen) Willen des Einzelnen vor die Logik „des unerbittlich sich Ereignenden“ stellen und so den „Grenzgang zwischen Selbstvergötterung und Autodestruktion“ zur Lebensmaxime des Schreibenden werden lassen.

Gänzlich anders als nach der Krankheit verfaßte „Zustandsprotokolle“, etwa jene aus anderer Perspektive höchst interessanten wahn-beschreibenden Aufzeichnungen des „geheilten“ Daniel Paul Schreber (Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken), sind die Rotterschen Reflexionen über die Anormalität keineswegs als nur nachträgliche Bekenntnisse einzuordnen. Umgekehrt sind seine luziden Erkundungen jener „prästabilierten Disharmonie“, die die Welt des Unglücklichen von der des (Dumpf-)Glücklichen scheidet, jedoch auch nicht als bloße Zustandsdichtung abzuwimmeln. Und auch auf dieser Disharmonie bettet sich Rotter nicht wie auf Rosen des Unglücks. Denn gelegentlich schlagen in den abgedruckten Gedichten Epiphaniewünsche als die Vision, daß „alles in diesem Weltendom“ „Hall und Widerhall“ habe und „sich entspricht“, herein.

Korrespondenzen aus dem Eigensinn der Dinge, die in und aus der Dichtung momenthaft faßbar sein könnten, werden in den poetisch-lyrischen Passagen des Kapitels „Aus der Fischwelt“ spürbar, wenngleich sie den Dichter stehen lassen als einen, der „in Angst und Schrecken versetzt ist durch den symbolischen Aspekt der Dinge“.

Und weil Rotter gegen Ende seiner Reflexionen „das Buch“ (im Mallarméschen Sinne) als Komplement oder gar als Oberkategorie der Welt sieht, kann es sich bei ihm wegen mangelnder relevanter Welt-Inhalte und „mangels zu erzählender Erlebnisse“ nur „um metaphorische Fragen des Schreibens“ drehen. Die Intensität und die Ausrichtung dieser nun vorliegenden Reflexionen des damals knapp Dreißigjährigen deuten es eindrucksvoll an: Hätten ihm die Umstände eine längere Dauer dieser literarischen Welt- und Selbstdurchdringung gegönnt, so hätte er sich an bedeutender Stelle in die Reihe großer „Tagebuchliteraten“ eingeschrieben, die von den werkbegleitenden Tagebüchern Heimito von Doderers oder Henri Michaux‘ bis zu ihren reinsten Beispielen in den Cahiers Paul Valérys oder in den Tagebüchern Franz Kafkas reicht. Jedenfalls können die kommenden Bände der Werkausgabe (Bd. 2: Gedichte, Bd. 3: späte Prosa, Bd. 4: NS – Irrspiel der Formen) mit großer Gespanntheit erwartet werden.

Aus der Fischwelt.
Tagebuchroman-Fragment und frühe Prosa (1984-1989).
Herausgegeben von Ralph Klever und Christiane Swoboda.
Klagenfurt, Wien: Ritter Verlag, 2000.
325 Seiten, gebunden, mit Abbildungen.
ISBN 3-85415-272-8.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 03.07.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.