Die nächste Überraschung ist die Vielfalt der neun Texte aus drei Jahren, sowohl in formaler Hinsicht als auch in Bezug auf ihre Themen und Settings. Während vier Erzählungen in der österreichischen Provinz angesiedelt sind – und diese auch in jeweils verschiedenen zeitlichen Kontexten und sozialen Milieus – ist der Handlungsort der letzten drei Geschichten einer biographischen Logik folgend Wien. Eine Erzählung spielt an einem Strand (am Mittelmeer?), die titelgebende Geschichte in Island. Bei allen Geschichten aus dem ländlichen Milieu zeigt Travnicek, Jahrgang 1987 und in Niederösterreich aufgewachsen, ein gutes Gespür für das unverkennbar Bäuerliche – vor allem für die Sprachlosigkeit dieser sozialen Gruppe. In „Brüderlein fein“, einer tragischen Geschichte um geschwisterlichen Inzest, scheint sich der Vater fast nur über Gesten mit seinen Kindern zu verständigen. Dies verstärkt die Erzählerin noch, indem sie den Text völlig ohne Dialoge belässt. In einem anderen Text wird der Leser wieder von der (aus dem allgemeinen Bewusstsein längst verdrängten) dörflichen Realität eingeholt: hier fährt sonntags kein Bus. Den beiden Kontexten entgegengesetzt ist die Erzählung „Celan sagt, im Spiegel wäre Sonntag“. Hier wohnt ein junges, gebildetes Paar (zumindest, was die Frau betrifft) irgendwo auf dem Land, vermutlich in einem geerbten Haus und kann scheinbar die Vorteile des Stadt- und des Landlebens verbinden. Ähnlich abgeschieden lebt auch das Paar in der Titelgeschichte irgendwo in der isländischen Provinz, in einem mehr als komfortablen Haus, in einem mehr als komfortablen, aber erstarrten Leben. Die Geschichten, die in Wien spielen, sind allesamt im proletarischen Milieu angesiedelt, mit all seinen Merkmalen. Auch hier erweist sich die Autorin als genaue Beobachterin von Details.
Gemeinsam ist den Erzählungen aber eins: das stille, für andere unsichtbare menschliche Leid in all seinen Variationen. Keine der Geschichten geht gut aus, in keiner zeigt sich die Möglichkeit einer positiven Entwicklung. Die Lebensumstände der Protagonisten dieser melancholischen oder erschütternden Geschichten sind sehr unterschiedlich und in ihrer Vergeblichkeit doch sehr vergleichbar. Beachtlich ist dabei vor allem, dass die 22-jährige Autorin sich nicht etwa auf das Erleben ihrer Altersgruppe beschränkt, sondern sehr souverän die Perspektive eines dementen alten Mannes oder eines gutgläubigen fünfjährigen Mädchens wiedergibt. Einmal ist es die Vereinsamung und das Wunderlichwerden im Alter, dann wieder das kindliche Vertrauen, das missbraucht wird: dem Mädchen wird gerade sein Brav-Sein zum Verhängnis.
Genauso gut kann sich die Autorin in die Lebenswelt eines Jugendlichen versetzen, der den Schock über den möglichen Drogentod seiner neuen Freundin mit sich trägt, bis er seinen Zorn auf sich selbst nur an seiner sanften, überarbeiteten, allein erziehenden Mutter auslassen kann. Berührend ist auch die Geschichte einer jungen Fabriksarbeiterin, in deren einsames, gleichförmiges Leben ein russischer Asylwerber ein bisschen Wärme und sogar Poesie bringt, aber ihre Liebe kann er dennoch nicht erwidern.
Besonders interessant – und in zwei Geschichten bearbeitet – ist das Motiv der erstarrten, routinierten, reizlos gewordenen Liebe. Die Worte, die Travnicek dafür findet, sind mehr als treffend: „Die Geschichten, die du mir erzählst, kenne ich schon, oder ich weiß von vornherein, wie sie enden“; „An manchen Tagen finde ich dich hübscher als an anderen. Heute ist ein anderer“; „Du sagst, du liebst mich, aber das sagst du oft“. Auch das Wissen um die Unzulänglichkeiten des Partners („Du trinkst Bier am Heiligabend“) und der wiederholte Wunsch nach jemand ganz anderem lassen die (jeweils weiblichen?) Protagonisten in ihren Beziehungen verharren, ja diese sogar verfestigen. Besonders genau beobachtet Travnicek die eitle Perversion einer jeden Sehnsucht: „Ich liebe dich, wenn du mir fremd bist, auf den Bühnen in den Städten“, „Ich liebe es, dich zu vermissen, und ich liebe es, wenn du nicht anrufst“. In der Island-Geschichte gesellt sich zur fast schon ans Absurde grenzenden Isolation zu zweit noch der drängende Kinderwunsch des Mannes, der offensichtlich durch eine Fehlgeburt oder Abtreibung hervorgerufen wurde, aber von der Frau keineswegs geteilt wird: „Du sagst, du möchtest ein Kind, das so wäre wie du, und ich sage dir, wie wahnsinnig du bist“. Auch hier liefert die Autorin eine ganze Reihe von sehr guten (und sehr reifen) Bemerkungen zum Thema Zusammenleben: „Wir werden zu zweit gehen, weil das im Endeffekt immer leichter ist.“
Nicht zuletzt beherrscht Travnicek auch verschiedene Formen ganz souverän. Manche Geschichten sind mehr oder weniger traditionell erzählt, andere weisen Elemente experimentellen Schreibens auf: Kleinschreibung, keine Interpunktion, abgebrochene und später wieder aufgenommene Sätze. In beiden Fällen entscheidet sich die Autorin fast immer für das Präsens, was die Erzählungen besonders unmittelbar wirken lässt. Die experimentellen Texte entwickeln einen Sog; die Spannung, die im Inhaltlichen aufgebaut wird, wird durch die atemlose Aneinanderreihung von Sätzen und Satzteilen noch verstärkt. In all diesen Texten kommen als Verfahren der innere Monolog und die erlebte Rede zum Einsatz, stets aber in Kombination mit einer Erzählerinstanz. Das Rhythmisch-Melodische ist aber auch in den anderen Texten durchaus spürbar, an manchen Stellen geradezu vollendet: „Mozarts Requiem zerfällt im Regen zu einzelnen Tönen, die sich im Schlamm auf dem Weg wiederfinden, getreten von den Füßen der Masse aus Mänteln und Schirmen in Schwarz.“
Aurora Borealis ist Travniceks erste Buchveröffentlichung. Die durchaus nicht unbekannte, mehrfach ausgezeichnete Autorin wird damit ganz sicher Beachtung finden. Es sind reflektierte, formal ausgereifte Texte voller Poesie. Ein überzeugender, allemal lesenswerter Erstling.