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Aufruhr

Michael Scharang

// Rezension von Ursula Ebel

Benötigt die politische Auflehnung tatsächlich Taschenspielertricks?

2010 veröffentlichte Michael Scharang seinen letzten Roman Komödie des Alterns, sein neuer Roman Aufruhr benötigte somit einige Jahre für die Fertigstellung und steht in loser Verbindung mit Scharangs 1998 veröffentlichtem Roman Das jüngste Gericht des Michelangelo Spatz. Lange war es also still um den großen Vertreter gesellschaftskritischer österreichischer Literatur, der bereits Ende der 1960er Jahre mit seinen ersten Büchern Verfahren eines Verfahrens (1969) und Schluß mit dem Erzählen und andere Erzählungen (1970) die den Traditionen verpflichtete Literatur infrage stellte. Seither arbeitet Scharang an einer eigenen Poetik gesellschaftskritischer Literatur, die den Anspruch erhebt zu gesellschaftlichen Veränderungen beitragen zu können.

Aufruhr beginnt jedoch fern von politischen Klassenfragen und zwar mit einem Mord in einer New Yorker Bar, dessen Zeuge der Protagonist Maximilian Spatz wird. Scharang nutzt die Ausnahmesituation Mord für tiefschürfende Gespräche zwischen Barkeeper, Spatz und den ermittelnden Polizist*innen. Der Mord ist für den Handlungsverlauf nicht weiter von Bedeutung, die Konversationen werden es bleiben. Denn intellektuelle, witzige Gespräche bilden die klare Konstante in diesem vor dramaturgischem Einfallsreichtum überbordenden Roman.

Spiel mit den Möglichkeiten

New York dient lediglich als atmosphärisch interessanter Hintergrund für einen gelungenen Romanbeginn: Der renommierte Psychiater Spatz benötigt nach intensiver beruflicher Tätigkeit Ruhe und wird von seiner Klinik ein Jahr beurlaubt. Dieses Sabbatical möchte er im Wiener Familiensitz verbringen, ein Anruf genügt und die Wohnung in der Innenstadt wird von der Haushälterin Frau Ehrenreich für ihn vorbereitet. Zweiter markanter Schauplatz neben der gutbürgerlichen Wohnung ist der Ort des kapitalistischen Systems schlechthin, ein Großkaufhaus. Das in der Wiener Mariahilferstraße gelegene Klippenbock & Brunsbüttel (der Name ändert sich im Buch laufend, einmal heißt es etwa wenig schmeichelhaft Kloppenbeug & Furzbeutel) richtet sein Angebot an gehobene Klientel, neuerdings mangelt es jedoch am Absatz. Gegen die geplanten Einsparungen von Seiten der Geschäftsführung versucht die unabhängige Betriebsrätin Anna anzukämpfen. Zunächst bleibt ihr Kampf erfolglos, doch dann trifft sie auf Spatz, der den Kontakt zu einer Gruppe vornehmlich intellektueller Aktivistinnen und Aktivisten herstellt bzw. dank seiner Kompetenz in Sachen Konversation rasch selbst engagierte Intellektuelle um sich schart.

Reüssieren kann die kleine Bewegung aufgrund von Spatz‘ Gewitztheit, die er einer frühen Erkenntnis in seinem Leben verdankt: Die Gesellschaft würde eine Menge Irrsinn akzeptieren, schlicht weil er als Norm gelte. Den täglich sich schleppenden Verkehr machen sich die Menschen etwa nicht bewusst: „Die Erfahrungen, die sie täglich machen, nehmen sie nicht zur Kenntnis. Deshalb kommt der Gedanke, ob und wie man das Verkehrschaos vermeiden könnte, gar nicht auf. So wird der bestehende Irrsinn als Normalität wahrgenommen.“ (S. 223) Genau die als fest in Beton gegossene Normalität gilt es auf Schwachstellen abzuklopfen.

Ziel der intellektuellen Truppe ist somit die schleichende Veränderung fixer Normen, ihre Mittel sind mitunter überraschend. Durch Taschenspielertricks und lukrative Schnäppchen im Kaufhaus werden Menschen zu politischer Aktion ermutigt. Erst nachdem sie hinters Licht geführt wurden, gerät die politische Auflehnung zu einem realistischen Szenario. Aufruhr gleicht einem Spiel mit Möglichkeiten im vermeintlich Unmöglichen. Neben Jean-Paul Sartre ist Oscar Wilde für die aufwieglerische Gruppe, die sich ein „Büro der Revolution“ in der gediegenen Wiener Innenstadtwohnung eingerichtet hat, ein wichtiger Vordenker. Besonders Wildes Essay Der Sozialismus und die Seele des Menschen ist von zentraler Bedeutung, ein diesem Text entnommenes Zitat verwenden sie für ihre Aktion in den Schaufenstern:

Ein weiser Mann hat viele
Jahrhunderte vor Christus gesagt,
so etwas,
wie die Menschheit in Ruhe lassen,
gibt es.
Aber so etwas,
wie die Menschheit regieren,
gibt es nicht.

Oscar Wilde (S. 158, vgl. Leseprobe)

Intellektuelle Konversationen als Hauptaktionen

Spatz zieht interessante Persönlichkeiten magisch an: Der ermittelnde Polizist erweist sich als ehemaliger Archäologe, der Taxifahrer als ehemaliger Student des Ingenieurswesens und die Haushälterin war einst kommunistische Aktivistin. Als weitere Gesprächspartner fungieren ein renommierter Statistiker, ein gewiefter Biologe usw. usf. Meist trifft Spatz diese schlauen, sympathischen Menschen zufällig. Scharangs Entwurf der gegenwärtigen Gesellschaft mutet in diesem Punkt hoffnungsfroh bis märchenhaft an. Den Intellektuellen ist gemein, dass sie vornehmlich männlich sind und es lieben zu monologisieren oder zu debattieren. Als profilierter Essayist erlaubt sich Scharang dank der Konversationen lange Einschübe. Thematisch spannt er dabei zwar einen breiten Bogen; vom Verhältnis von Architektur und Gesellschaft über die gegenwärtige Handlungsunfähigkeit der Linken zu den Machtstrukturen innerhalb der Mensch-Tier-Beziehungen. Kern der Abhandlungen sind jedoch stets Scharangs zentrale Fragen zur Entwicklung und dem Zustand der Arbeits- und Lebensbedingungen, partiell auch die etwaige Funktion von Kunst zur Veränderung von Gesellschaft. Bei den Ausführungen fokussiert er oftmals auf spezifisch österreichische Verhältnisse, der Biologe Franz Montefiori erklärt etwa: „In Österreich (..) ist jahrhundertelang keine Philosophie hervorgebracht worden. Das hat sich bis heute nicht geändert. Das Habsburgerregime war despotisch, es erlaubte als geistige Hervorbringung ausschließlich Musik, in der falschen Annahme, die könne nicht sprechen. Da man aber nichts vollkommen unterdrücken kann, ist die Philosophie in der Literatur durchgebrochen, zuerst bei Nestroy, dann bei Karl Kraus, der sogar in Deutschland einen Schüler hatte, Adorno.“ (S. 127)

In Aufruhr imaginiert der Meister literarischer Gesellschaftskritik Michael Scharang ein Szenario, in dem eine österreichische Arbeiter*innenschaft gern auf gewohnte Fernsehprogramme verzichtet, um in Massen zu Schaufenstern eines Großkaufhauses zu strömen, in denen neben ausgestopften Tieren Zitate von Oscar Wilde und Jean-Paul Sartre prangen. Der Roman oszilliert dabei zwischen Utopie und Satire, die Handlung wird zunehmend absurd, liefert jedoch im Bereich des Möglichen haarscharfe Analysen. Scharang entwickelt die Perspektive eines Weges aus der gegenwärtigen Sackgasse ungleicher, kapitalistischer Verhältnisse. Neben dem hochpolitischen Plot sind Gespräche über Arbeits- und Lebensbedingungen die eigentlichen Hauptaktionen. Wem also kluge Konversationen im Alltag abgehen, der/die kann sie in diesem Roman finden.

Aufruhr.
Ein Roman.
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2020.
305 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-518-42928-0.

Homepage des Autors

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

 

Rezension vom 24.07.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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