Was Plumpe in seinem Einleitungstext begriffsgeschichtlich so genau erarbeitet, bleibt in den restlichen Beiträgen des Sammelbandes leider ungenutzt. Ja, es bleibt sogar unklar, ob Plumpes Text überhaupt als eine Einleitung zu verstehen ist. Als Herausgeber des Text und Kritik-Sonderbandes Über Avantgarde scheint de facto nur der Reihenherausgeber Heinz Ludwig Arnold auf. Wer für das Konzept des gegenständlichen Bandes verantwortlich ist, wird nicht gesagt. Dies ist auch deshalb schade, weil man den Verantwortlichen gerne nach den Kriterien seiner Auswahl und seiner Zusammenstellung gefragt hätte.
Die historische Avantgarde gibt dem Sammelband immerhin einen erkennbaren Schwerpunkt vor. Beiträge von Uwe Lindemann und Walter Fähnders beschäftigen sich mit den medialen Durchsetzungsstrategien und der politischen Positionierung der klassischen Avantgardebewegungen und bieten eine gute Einführung ins Thema. Mit einzelnen Aspekten wie der Einbindung von Avantgardekonzepten in den Bereichen Architektur und Film setzen sich in informativen Aufsätzen Hanno Ehrlicher und Norbert M. Schmitz auseinander. Der Theater-Avantgarde von der Jahrhundertwende bis in die Zwanziger Jahre sind gleich zwei Beiträge gewidmet. Einer davon stammt von Evelyn Deutsch-Schreiner und bietet neben einer soliden Beschreibung der ideengeschichtlichen Grundlagen des freien Tanzes und der Körperkultur (bei Kokoschka, Schönberg, Kiesler und Moreno) ein bemerkenswert emanzipatorisches Bild jener „rhythmischen Gymnastik“, die Marianne in Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ betreibt.
Wer sich für Zeitschriften und Verlage der historischen Avantgarde sowie für das nicht ganz alltägliche Thema „Hannover als Ort der Avantgarde“ interessiert, wird mit den Beiträgen von Stephan Füssel, Ute Schneider und Klaus Stadelmüller glücklich sein. Nur sehr wenig mit dem präsumtiven Gesamtthema des Sammelbandes hat ein Beitrag zu tun, der von der Germanistin Ortrun Niethammer und der Kleidungswissenschaftlerin Annette Hülsenbeck verfaßt wurde. Umso spannender sind die Texte, auf die sich die beiden Autorinnen beziehen. Zum einen ist dies eine von 1917 stammende Detektivgeschichte der Amerikanerin Susan Glaspell, die sich „Lappalien“ nennt und ebensolche zum Inhalt hat. Die weiblichen Spuren in Küche und Handarbeit vermögen die männlichen Detektive (noch nicht) zu identifizieren. Einen anderen Weg in die Zukunft weist eine Erzählung von Marieluise Fleißer, die 1963 postum erschien und ursprünglich „Trauma“ heißen sollte. Fleißer ändert den Titel in „Avantgarde“ und vollzieht damit einen Begriffswandel, der nicht untypisch ist. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnet „Avantgarde“ eben nicht nur die militärische Vorhut, sondern auch die innere Befindlichkeit, die der entsprechende Truppenteil zeigt: Eine Anspannung, die von der andauernden Suche nach Feindfühlung rührt.
Ein quälendes Lamento auf die Unmöglichkeit einer authentischen Lebensführung unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft stimmt Hans Dieter Schäfer an. Unter Aufbietung aller spekulativen Details setzt er die Selbstmorde von Paul Celan und Ingeborg Bachmann und die schriftstellerischen Einsamkeiten von Uwe Johnson und Arno Schmidt in Szene, um damit kaum etwas anderes zu sagen, als daß gegen den Markt heute ohnehin kein Kraut gewachsen ist. Der Herausgeber des Sammelbandes hat sich die Sache leicht gemacht: Er setzt Schäfers Beitrag ans Ende und versieht ihn mit der Überschrift „Arriéregarde“. Zu allem Überfluß ist dort auch noch ein Text von Boris Groys zu finden, der nun aber an dieser Stelle wie eine lahme Ente wirkt. Ich nehme an, Groys hat die staubtrockene Abhandlung über den sozialistischen Realismus für einen ganz anderen Zweck geschrieben. Als Kontrast zu Schäfer hätte man sich von Groys auch nur einen aktuellen Satz gewünscht.
Zwischen die beiden doch sehr disparaten Essay-Abteilungen setzt der Text und Kritik-Band einen eigenen Abschnitt mit „Lektüren“. Er umfaßt zentrale Texte von Kurt Schwitters, Gottfried Benn („Morgue“), Else Lasker-Schüler, Carl Einstein („Die Fabrikation der Fiktionen“) sowie deren Kommentierung durch Autoren wie Yoko Tawada oder Barbara Köhler. Thomas Kling faßt in seinem Beitrag zu Hugo Ball ein schiefes Bild in ein schönes Wort: „Verwesungsdirigenten“ – von ihnen hätte man sich ein bißchen mehr gewünscht.