#Lyrik

auf der hand

Nikolaus Scheibner

// Rezension von Günter Vallaster

Es bedarf der Poesie, um das Evidente in Worte zu fassen, um sichtbar, hörbar, erkennbar zu machen, was auf der Hand liegt. Dies leistet der vorliegende Gedichtband von Nikolaus Scheibner auf vorzügliche Weise und sein Titel auf der hand platziert sich, auf dem Cover senkrecht gesetzt, parallel zur Hand der Leserin, des Lesers, wird zur sprachlichen Verlängerung der Finger, ja der Band wird selbst zur Hand und nimmt alle, die ihn in die Hand nehmen, mit auf eine Exkursion zu den Möglichkeiten der Poesie.

Wird diese Hand geöffnet, strecken sich die Finger zu fünf Kapiteln, die deiktisch Positionierungen des schreibenden Subjekts zeigen und räumlich und thematisch durchdeklinieren: über des autors, über die autor, über dem autor, über das autor, über im autor. Gelesen werden kann in drei Handlinien, die sich als Textlinien durch das Buch ziehen: in den kursiv gehaltenen marginalien jeweils links oben, den Gedichten in der Mitte und dem Daumenkino des Librettisten, Autors und Bauarbeiters Branco Dobric rechts unten. Das Daumenkino alterniert munter mit den Seitenzahlen auf den linken Seiten des Buches und zeigt, den Texten entsprechend, Finger in verschiedenen Positionen, das Zählen mit diesen als eine mögliche Lesart und thematisiert sich damit selbstreflexiv auch selbst.

Von Beginn an gestaltet sich die Exkursion als Reise mit prall gefüllten Kofferwörtern, also Wortverschmelzungen, mit denen James Joyce, Arno Schmidt oder Ernst Jandl ihre wahre Freude gehabt hätten. Als würden sie Jim Morrisons Textstelle in Universal Mind, „then you came along with a suitcase and a song…“ folgen, brauchen die Verse nicht mehr und nicht weniger als raffinierten, oft nur geringfügigen Austausch von Lettern, Weglassungen von Silben („triebstemperatur“, S. 19), Verpackungen von Wörtern ohne Löcher im Inhalt und gezielte Zeilensprünge, um die Botschaften dichterisch hoch konzentriert zu vermitteln: „also boot kran ich dir bienen / dir pferdrundhäutungsschilder …“ (S. 2).

Angenehm ungebügelt hebt die Gedichtstrecke an: „über des autors / wäsche weiß man wenig“ (S. 3) -Knitter- statt Knittelverse, Waschmaschinen als Betonmischmaschinen, der Zeilensprung „… an / aus“ am Schluss als einziges mimetisches Zugeständnis an das kurze Nachwippen der Waschtrommel am Ende des Waschgangs. Sehr bald zeigt sich, dass die Gedichte nicht an den Wörtern stehen bleiben, sondern auch die grammatikalischen Satzbaupläne den jeweiligen poetischen Erfordernissen entsprechend modifizieren: „es gibt nur / wenn hagel der / magensonde / jeder geht / durch gleiche / alles“ (S.  4). Ebenso wird dem visuellen Aspekt der Sprache Beachtung geschenkt: Das Gedicht „bildsau funktionsunterbriefung“ (S. 5) ist ein Gesicht, dessen Augen und Mund mit Klammern und Schrägstrichen gesetzt sind, und der Text „jesu liebte“ greift mit dem Kreuz ein altes Sujet des Figurengedichts auf, um es zu konterkarieren, wie etwa Ernst Jandl in „martyrium petri“ aus seinem Band „sprechblasen“, das mit „fuß fuß“ beginnt und mit „auge auge“ endet. In „sodazitron: intonatio“ (S. 50) erscheint das Wort „dikamen“, von dem sich ein Punkt von Zeile zu Zeile weiter entfernt wie ein Medikament, das sich in einem Wasserglas sprudelnd auflöst. Die Augen und der Gesichtskreis mit all seinen Winkeln ergänzen von Gedicht zu Gedicht zunehmend leitmotivisch die Fingerhaptik („augen mit als wäre ich die u-bahn“, S. 9). Und dazwischen immer wieder lockere, launige Songs wie „TO GEOFFREY“ (S. 10) oder „hüühaa“ (S. 50), was sich wie die lautmalerische Verschriftlichung eines Tocotronic-Akkords liest, verbunden mit der Frage, ob „mich dirk von lowtzow eigentlich lieb“ (ebd.) hat. Keine Angst, er hat, und das „de luxe!“ (ebd.). Viele Gedichte sind Metagedichte, Dichtung über das Dichten, wie „beschlossen ein nobelpreisgedicht“ (S. 14), die an die Herz-Schmerz-Herzen schon mal „schrittmacher“ (S. 47) setzen und beschreiben, was „eine gute schreibküche hat“ (S. 18), inklusive „dichtungshanf“ (S. 57).

Die marginalien wirken wie Mottos oder Kommentare zu den Gedichten, die zugleich als eigenständige Epigedichte gelesen werden können, als Kopfnoten, um dem Gegenteil von „Fußnote“ ein Wort zu geben, denen de-idyllisierende Momentaufnahmen eingeschrieben sind: „abends die mülltonnen / im hof das testbild / am ende der raupe: / erwachsen“ (S. 6).

In den Gedichten wandert der Schwerpunkt vom Autoren-Ich in über des autors („baby du / fühl mich gut“; S. 6) zunächst einmal zum wohl- oder übel erzogenen Text-Ich in über die autor, das vom „zwingvater“ (S. 21) überkorrekt zu „marzuzipan“ (ebd.) gezwungen wird, ein Ich, das im reißenden Apfel-Strudel untergeht („aufbrüder äpfel zu strudel“; ebd.). Es folgt die Entlarvung des Autorenheiligenscheins als „gläserne stachelbeere“ (S. 25) in über dem autor. In diesem Kapitel werden auch Paragraphen in die Gedichte geholt, um verschiedene institutionelle Gürtelschließen lyrisch zu verarbeiten (§ 1 -14 morphologie, S. 30 ff.), seien es klerikale oder gesetzliche. über das autor ist eine lyrische Weltreise ohne Ansichtskarten von Peru bis zum Himalaya, über im autor sieht ein Ich in den Fängen der High-Speed-Welt-Gewalt: „hundertstel uns uns auf deinem / du deiner viel viel schneller dir / dich schlag schlag schlüpf“ (S. 52).

Nikolaus Scheibners Gedichte irritieren und überraschen permanent und beeindrucken mit ihrer Radikalität sowohl in der Aussage als auch im Verlassen ausgetretener Verspfade und in der Vermeidung erstarrter Metaphernmodeln. Sie sind direkt, avanciert und befassen sich mit viel poetischem Fingerspitzengefühl mit der Welt und ihren fadenscheinigen Glacéhandschuhen. Sie sind, um einen Vers aufzugreifen, eine große Bereicherung für „buch / hand / lungen“ (S. 37).

Nikolaus Scheibner auf der hand
Gedichte.
Ill.: Branco Dobric.
Wien: Herbstpresse, 2006.
63 S.; brosch.
ISBN 978-3-900476-65-6.

Rezension vom 11.03.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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