#Sachbuch

Auf den Spuren von Franz Kafka in Prag.

Gerard-Georges Lemaire

// Rezension von Hermann Schlösser

Um die Jahrhundertwende verwandelte sich Prag aus einer altertümlichen Provinzstadt in eine moderne Großstadt, und diese Metamorphose ging nicht ohne Spannungen ab. Die tschechisch sprechende Mehrheit befand sich mit der deutschsprachigen Minderheit im Konflikt, Arbeitskämpfe brachen aus, kulturelle Kontroversen störten die beschauliche Bürgerruhe und anderes mehr.

Dass Franz Kafka ein sorgfältiger Beobachter all dieser Tendenzen und Turbulenzen gewesen ist, geht aus seinen Briefen und Tagebüchern hervor. Doch enthalten auch seine scheinbar so weltfernen, verrätselten Erzählungen sehr viel mehr Prager Realität, als es dem ersten Blick erscheinen mag. Aus diesem Grund hat es auch schon mehrere Versuche gegeben, Kafkas Leben und Schreiben aus dem Zusammenhang seiner Prager Lebenswelt heraus zu begreifen – oder zumindest: einen solchen Zusammenhang an Hand von Dokumenten und Materialien sichtbar zu machen. Wie ein solcher Versuch im Idealfall aussehen kann, zeigte Klaus Wagenbach mit seinem 1985 erschienenen Bildband „Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben“: Knapp informierende Texte verbinden sich hier mit zeitgenössischen Fotografien und anderen Dokumenten zu einem unprätentiösen, von interpretatorischen Höhenflügen freien Porträt Franz Kafkas.

Der neueste Bildband, der sich auf Kafkas Spuren durch Prag bewegt, lässt sich nicht in solch hohen Tönen loben. Wohl fehlen auch hier nicht die historischen Fotodokumente, wohl erfährt man auch hier, wo Kafka wohnte, wo und wie er sich amüsierte, wo er las und schrieb. Wenn der neue Band dennoch einen weniger vertrauenswürdigen Eindruck macht als Wagenbachs ältere Arbeit, dann lassen sich dafür zwei Gründe aufführen: Zum einen erzählt der biographische Abriss von Georges Lemaire Kafkas Leben in umständlicher Sprache nach, und kompiliert dabei eine Menge wohl bekannter Sekundärliteratur – auch Wagenbachs Forschungen werden fleißig genutzt – so dass sich schließlich das Gefühl einstellt, ein Blick in die zitierten Werke sei womöglich lohnender als die Lektüre von Lemaires Text. Zum anderen sind dem Band Fotografien aus dem heutigen Prag beigegeben, die einige Fragen aufwerfen. Hélène Moulonguet hat die Stadt nach der Manier besserer Reisemagazine – „Merian“, „Geo“ – ins Bild gesetzt: schöne, geschmackvoll ausgewählte Detailansichten wechseln mit den berühmten Panoramablicken ab, die jedem Pragbesucher geläufig sind. (Kleinseite mit Hradschin und so weiter.)

Diese Fotos mögen durchaus geeignet sein, die Sehnsucht nach Prag anzustacheln. Mit der besonderen Stadtwahrnehmung Kafkas, der seine Blicke vor dem Unbedeutenden, Ärmlichen und Hässlichen niemals abwandte, haben die Hochglanzfotos aus dem postsozialistischen Bilderbuchprag allerdings nichts gemeinsam. Deshalb bleibt als Fazit nur zu sagen: Als Appetizer für eine Pragreise hat der Band seine Qualitäten. Wer sich jedoch im Ernst mit „Kafkas Prag“ beschäftigen will, sollte sich weiterhin an Klaus Wagenbach halten.

Hermann Schlösser
26. Februar 2003

Originalbeitrag

Fotos: Hélène Moulonget.
Aus dem Französ.: Silvia Strasser.
Hildesheim: Gerstenberg, 2002.
167 S.; geb.; m. Abb.; Euro (A) 36,-.
ISBN 3-8067-2909-3.

Rezension vom 26.02.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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