„Im Traum gehe ich zwei Handbreit über dem Boden“, notiert die Erzählstimme nach gut 100 Seiten. Auch als Leserin von Alice Harmers Notizen, die in einem diffusen Nebel erst allmählich Kontur gewinnen, fühlt man sich anfangs wie in einem Traum. Nichts ist richtig zu fassen. Eine Patientin schwebt zwischen Wachzustand und Koma und findet nur widerwillig zurück ins Leben. Aus dem Unbewussten tauchen Fragmente auf. Empfindungen. „Aphasie“ lautet eine erste Diagnose, unter der sich ein tiefgehendes Trauma verbirgt, eine Erschütterung, als wäre nicht nur der Körper in Einzelteile zerfallen, sondern ebenso und viel nachhaltiger auch die Seele. „Schizoide Persönlichkeitsstruktur“, dokumentiert die hinzugezogene Psychiaterin.
Verschiedene Stadien der Rehabilitation, halbe Gedanken, bleierne Trägheit, Pillen, eine Psychotherapie: Fragen nach dem „inneren Kind“, nach Suizidgedanken, nach dem „Frau-Sein“. Besuche bei den Eltern, ein zaghaft beginnendes neues Jahr. Die Arbeit mit der Analytikerin fördert verschollene Erinnerungen zu Tage und führt die Erzählerin weit zurück in ihre Kindheit in einem burgenländischen Dorf. Nach der Reihe öffnen sich Fenster in die Vergangenheit, durch die wir LeserInnen auf ein fernes ländliches Nachkriegsleben blicken. Auf die raue, aber auch abenteuerliche und glückliche Kindheit der Erzählerin, die zu Weihnachten 1945 als jüngste Tochter einer Bauernfamilie geboren wird und, bald unterernährt und krank, ihr erstes Lebensjahr allein in einem entfernten Spital verbringen muss. Die Mutter hat keine Milch, und der aus dem Krieg heimgekehrte Vater ist noch lange nicht der wohlhabende Schweinezüchter, Fleischhauer und Dorfpatriarch, den wir in späteren Notizen kennenlernen. Als das Mädchen wieder nach Hause „geliefert“ wird, ist sie ihrer Familie völlig fremd.
„‚Welches ist Ihre allererste Erinnerung?‘, fragt die Therapeutin. ‚Ich stehe auf dem Küchentisch, umringt von Augen, die mich anstarren. Ich setze mich nieder und lutsche meine Zehen.'“ (S. 46, siehe Leseprobe)
Wie durch ein Fernrohr blickt die „Klientin“ Jahrzehnte zurück, die Analytikerin hat etwas in ihr geweckt. Wir lesen die wunderbar farbige, sinnliche Schilderung eines Kindheitssonntags mit feierlichem Kirchenbesuch (S. 52) oder ein kleines Porträt des Vaters, der darin fast zu einer mythischen Figur wird. „Der Mann, der die Tiere ins Dort geholt hatte. Ein Held. (…) Er trug Stiefel und knöchellange Schürzen: eine blaue, wenn er das Vieh versorgte, eine weiße aus Gummi, wenn er es schlachtete, und wenn er das Fleisch verkaufte eine aus weißem Baumwollstoff. Gefaltete Stirn und steile Brauen signalisierten seinen Zorn und alle fürchteten sich.“ (S. 55)
Das jüngste Kind sucht hartnäckig die Nähe dieses mächtigen Riesen, rupft zärtlich Borsten aus seinen Ohren und hopst ihm hinterher ins Geschäft, wo er sich „in einen weißen Elefanten verwandelt, mit Hemd, taillenkurzer Jacke, langer Hose und Schürze, weiß wie die Theke, die Waage, Fliesen und Hakenleisten.“ (S. 56) Erst in einer Phase jugendlicher Rebellion bekommt dieses übergroße Vaterbild Risse, und noch viel später, während ihrer Therapie, „bricht eine Betonplatte von ihrer linken Körperseite“, als die Tochter erkennt, wieviel Kraft es sie stets gekostet hat, „das Monster zu bändigen, zu streicheln, die explosive Gewalt zu besänftigen…“ (S. 98)
Auf andere Weise schwierig ist es mit der Mutter, die Dank einfordert für die Mühen der Schwangerschaft im letzten Kriegsjahr, für die geglückte Flucht vor der roten Armee, für die vielen Sorgen, die dieses Kind ihr von Anfang an gemacht hat. „Und als du auf der Welt warst, hatte ich keine Milch, sondern einen Nervenzusammenbruch.“ (S. 112)
Welches Mutterbild sie von sich selbst habe, fragt eines Tages die Therapeutin und trifft ihr Gegenüber mitten ins Herz. Traurigkeit und Schuld stehen im Raum: „Den Familientisch verlassen, die Kinder, das Ehebett.“ (S. 63) Auch eine frühe Schwangerschaft mit durchaus erwünschter Fehlgeburt belastet das Gewissen der Erzählerin.
Irgendwann notiert sie versöhnlich: „Danke liebe Mutter, dass Du mich nicht verloren hast!“ (S. 91)
Mit fortschreitender Genesung der Heldin nimmt die Vergangenheit immer mehr Raum ein, das montageartige, fragmentarische Erzählen wird ruhiger, linearer, immer mehr kräftige, beinah rustikale Bilder tauchen auf.
„Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es.“ – Mit dieser Aufforderung eröffnet die junge Autorin Helena Adler ihren jüngst erschienenen Debutroman „Die Infantin trägt den Scheitel links“, der in eine bilderreiche literarische Provinzwelt führt. Alice Harmer erweckt mit ihrer Sprache ähnliche Gemälde zum Leben, auch sie ist als Schreibende und Zeichnerin in beiden Kunstsparten zu Hause. Intensive Farben, Gerüche, Geräusche formieren sich einerseits zu einer lebendigen Biografie, andererseits zum eindrucksvollen Porträt einer bäuerlichen Landschaft und Gesellschaft, die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts einer modernen Infrastruktur weichen musste. Die Puszta, das Dorf, die zahlreichen Familienmitglieder, die Handwerksberufe vom Schmied über den Sattler, Schuster, Mechaniker bis zum Schneider, Bäcker und Fleischhauer, und dazwischen überall Kinder: „Der Spielplatz war grenzenlos“, schreibt die Erzählerin an einer Stelle, vor den Eltern und der vielen Arbeit versteckt sie sich im Maulbeerbaum, streunt mit den Buben über Straßen und Felder, zu dritt balancieren sie auf einem großen Herrenfahrrad. Die Romanheldin sitzt als kleines Mädchen auf dem Dachfirst und genießt die endlose Aussicht (siehe Buchtitel): „Rundum Schilf, Eternitplatten, Schindeln, Wellblech, Rauchfänge, Baumwipfel. Endlose Aussicht. Ein Gedanke wurde zum Ziel: weit fort fliegen … und eines Tages würden alle staunen, wenn sie die Stimme der Ausgewanderten aus dem Radio hörten.“ (S 83)
Alice Harmer, die im 75. Lebensjahr ihren autobiografisch gefärbten Debutroman vorlegt, ist in der Buchbranche keine Anfängerin, sie publiziert seit Anfang der 80er Jahre, war als Herausgeberin und Verlegerin tätig und illustrierte als Zeichnerin Gedichtbände und Kinderbücher. 2014 erhielt sie den Literaturpreis des Landes Burgenland. Seit 1959 lebt Alice Harmer in Wien, und es liegen Welten zwischen dem einstigen Bauernkind und der heutigen Schriftstellerin, die sich mit diesem Roman nicht nur ihrer Heimat liebevoll annähert, sondern dafür auch einen neuen, runderen Schreibstil gefunden hat. Diese literarische Stimme wird den Leuten im Dorf gefallen, wenn sie sie aus dem Radio hören.