Das vorliegende Büchlein hat nichts Titanisches an sich, es ist zierlich in Design und Inhalt, und sein englischer Titel mag auch trefflicher andeuten, worum es geht: es ist ein Inspired Traveller’s Guide: Literary Places, also ein inspirierter Reiseführer, in der Aufmachung gleich wie der im vorigen Jahr beim selben Verlag erschienene Atlas der spirituellen Orte – Eine Reise zu den mythischen Kraftstätten und religiösen Pilgerstätten. Das mag auch seine Leserschaft finden. Auch am Atlas der ungewöhnlichsten Orte – Eine Reise zu verwunschenen Plätzen, verlassenen Inseln und geheimnisvollen Labyrinthen und ähnlichen Kuriositäten im gleichen Design wollen wir vorübergehen. Hier sind nur die literarischen Pilgerschaften von Relevanz.
Die Übersetzerin, Barbara Sternthal, ist wohl nicht für die Titelwahl verantwortlich, sie sei aber an dieser Stelle gerühmt, ihre Arbeit hat gewiss zur ausgezeichneten Lesbarkeit der Texte beigetragen. Dass der Titel so großsprecherisch beansprucht, eine Darstellung „der“ literarischen Orte, eine Entdeckungsreise zu „den“ Schauplätzen „der“ Weltliteratur zu sein, ist wohl eine Verlagsidee. Die Autorin schränkt das im Vorwort ein auf 25 „großartige literarische Orte“, „eine sehr genau durchdachte Shortlist faszinierender Destinationen“ (S. 7).
Sarah Baxter, stellvertretende Herausgeberin der Sunday Times und vielfältig inspirierte Reise- und Wanderschriftstellerin, Beiträgerin zu den Lonely Planet-Reiseführern, ist die Autorin, und sie legt Begehungen und Lektüren zu diesen klug gewählten Schauplätzen vor, „synchronisiert“ gewissermaßen Lektüre- und Orts-Erfahrung und verbindet sie zu zwei- bis dreiseitigen lockeren, aber inspirierten und inspirierenden Essays. Dazu gibt es „naive“, starkfarbige Illustrationen von Amy Grimes, welche die Orte neu sehen lassen. Fast wie für ein Kinderbuch gemacht, in starker Abstraktion und durchaus nicht an den traditionell ikonischen Wahrzeichen der Städte und Landschaften orientiert. Manches hätte Henri Rousseau nicht besser machen können.
Nicht alles passt aber glücklich zusammen. Zu Nadine Gordimers Township Soweto heißt es im Text: „Betrunkene schwanken zwischen alten Autos und halbirren Hühnern. Gerümpel stapelt sich in schmutzigen Gassen […] Die Luft riecht nach Urin, Abfall, Schnaps, Verzweiflung“ (S. 88). Die Illustration dazu zeigt hübsche bunte Häuslein und schön aufgeräumte Marktstände. Die einebnende Buntheit der Illustrationen mutet manchmal geradezu ironisch oder zynisch an, wirkt wie eine dekorative Übermalung. So mag auch Khaled Hosseinis Kabul weniger friedlich sein als die dazugestellten Bilder suggerieren. Vielleicht sollen sie an die Sechzigerjahre erinnern, das „Goldene Zeitalter des kulturell so reichen, damals kosmopolitischen und liberalen Kabul“.
Manches an den Zuordnungen ist erwartbar (Dublin: James Joyce, Ulysses, no na; St. Petersburg, Dostojewskij, Verbrechen und Strafe; London: Dickens, Oliver Twist), anderes ist neu und überraschend. Deutsche Literatur ist auch vertreten (Davos mit Thomas Mann, Berlin mit Alfred Döblin), erfreulich ist aber die „globale“ Streuung über die Kontinente, freilich mit Schwerpunkt Europa (13 Orte), und die historische Tiefe, die zu bewältigen ist: Bath ist mit Jane Austen 1818 vertreten, Paris mit Victor Hugos Les Misérables von 1862, Neapel mit Elena Ferrantes Genialer Freundin von 2011.
Es ist eine Qualität der kleinen Essays, dass sie diesen zweifachen Sog erzeugen: die Romane (wieder oder erstmalig) zu lesen und die Orte (wieder oder erstmalig) zu bereisen. Unprätentiös wie sie sind, beanspruchen sie nicht, wie ein anderer Atlas, die Gewölbe der Literaturwissenschaft, der Geschichtswissenschaft oder Geographie zu stützen, sondern spüren am literarischen oder „örtlichen“ Detail den Zauber der Verbindung von Literatur und ihrem jeweiligen Ort auf. Hübsch designed in Europa, schön gedruckt in China, ein nettes Mitbringsel für Interessierte und gute Freunde.