#Roman

Atemhaut

Iris Blauensteiner

// Rezension von Evelyn Bubich

»Zweimal einatmen und keinmal aus«

Die Förderbänder in dem großen Industriegebäude rattern und quietschen unentwegt, die Maschinen laufen und hämmern unermüdlich, Tagschicht, Nachtschicht, Metall reibt an Metall, Schwielen bilden sich auf der Haut, Rücken schmerzen.

Der junge Edin schuftet in einer Pakethalle, ist eingebunden in ein System, das, von kapitalistischem Ursprung gespeist, all jene aussortiert, die kein perfekt geöltes Bindeglied in der Produktionskette darstellen; jene, die ihre von Computern errechneten Listen nicht optimal abarbeiten, jene, die den Ablauf gar noch verlangsamen, wenn auch nur um Sekunden. Denn am Ende dieser Kette steht der Käufer, der sein erworbenes Produkt so schnell wie möglich erhalten muss, der nie satt werden darf, der Käufer bleiben muss, so schnell wie möglich wieder Käufer werden muss, immer wieder Käufer. Am Stadtrand, wo diese Nicht-Orte der menschlichen Zivilisation ihre reale Verortung haben, »quetscht [sich Edin] in die Sekunden«, »macht [sich] schmal«, versucht dennoch, »alles im Griff zu behalten«. Aber der Griff entgleitet, Edin verliert die Arbeit als Paketschlepper und -sortierer, wird ersetzt, von den »erfahrensten und zuverlässigsten Mitarbeiter[n]«, »aus Kostengründen« – Stachanow lässt grüßen; ein Mythos kann nicht sterben. Aber: »Was bist du ohne Arbeit wert«, fragt das Erzählersubjekt, fragt der Protagonist, fragt die Autorin, die durch dieses Buch führt, als hielte sie ein Maschinengewehr der Sprache, der Worte, der Buchstaben. Es ist ihr Sog, der einen mitreißt, hinabreißt auf den harten Grund einer Arbeitswirklichkeit im Verborgenen, der einem den Atem stocken lässt, wie der von Edin stockt; Edin, der nach Luft schnappt, während er in Panik gerät. »Du denkst an einen Weberknecht. Wenn er alle Beine verliert, bleibt ein Rumpf, reglos, auch wenn er weiterklettern will.« Es ist die Panik vor dem Ausgesondert-werden, dem Nicht-entsprechen-Können, dem Vergammeln als ausgemusterter Restposten – wie die Pakete, die dann niemand mehr braucht, niemand mehr haben darf, die zu Abfall werden – »ihr schiebt sie zum Müll«.

Es ist das Atmen, das »Rauschen der Nervenbahnen«, der »Klang, der zu [s]einem passt«, Vanessas Klang. Gemeinsam mit Vanessa, die ebenfalls in der Pakethalle arbeitet, lebt Edin in einer Einzimmerwohnung. An ihrem Atem lässt es sich festhalten, er durchströmt sie beide, mit »Vanessas Wange an deiner«. Ein gemeinsames Hobby verbindet die zwei »Wölfe«, mit denen sie sich in der imaginären Ego-Shooter-Gaming-Welt identifizieren: »Eure Mission: gemeinsam die Zombies ausrotten, kämpfen bis zum Finale, bis zum allerletzten Portal.« Plötzlich wird das Situative noch realer, das Erzählen noch unmittelbarer. Es knattert und donnert, und man freut sich, wenn das digitale Blut der Zombies über den Bildschirm spritzt, wenn Edin zum Helden einer mikrokosmischen Welt wird, angesiedelt in einem imaginären Fluchtraum. Auch hier spinnt sich eine Monotonie des Alltags, seine maschinelle Geräuschkulisse fort; auch hier repräsentiert eine feindselige Landschaft, in der man auf Untote (ausgerechnet auf sie!) schießt, den Stahl und das Eisen und das Öl einer aggressiven Welt der Wirtschaft, in der der Drang nach dem Überleben dieses nicht unbedingt fördert. Was sind Untote denn anderes als die übergelassenen Reste eines Systems, das sich selbst ins Fleisch sticht, sich selbst verdaut, was sind sie anderes als die Kinder der Verdrängung, die Kinder der Toten? Du läufst und läufst, oder »[d]u klebst auf dem Boden. Am Punkt null gibt es keinen Grund, sich zu bewegen.«

Immer wieder dazwischen, nicht vergessen: das Atmen; die Abfolge von Atmen und dem Gefühl, dabei zu ersticken, Atmen und daran ersticken. »Dir ist, als würdest du zweimal einatmen und keinmal aus.« Mit dem Stilmittel der Aufzählung, stakkatoartig, eindringlich, beschreibt die Autorin Arbeitsvorgänge und Prozessabläufe, die wiederum eine Welt beschreiben, in der der von Menschenhand gemachte Maschinenarm den Takt vorgibt, den Rhythmus, den Sound. Letztlich wird die Maschine überlebensnotwendig, »[o]hne schützende Härte zwischen den Nerven und der Welt berührt dich jeder Kontakt, jede Begegnung.« Overload als Dilemma stellt sich ein. Gerät zu schwere Luft in die Lungen, setzt das Organische aus, so kann auch eine Maschine das Atmen übernehmen, eine künstliche Atemhaut – dann »hält die[se] Haut alles zusammen«. Gerade der Atem, die Lungen sind ein starkes künstlerisches Motiv. So schreibt etwa der Autor und Filmemacher Alexander Kluge in Anlehnung an einen lyrischen Text von Ben Lerner über »DIE SIEBEN VERLANGEN DES KÖRPERS NACH AUFTRIEB«: »Die erste Kraft ist die der LUNGEN. Sie besitzen zähen Eigenwillen.«
Aber nicht bloß der Techno-Sound verleiht dem Text einen starken literarischen Ausdruck mit der Vehemenz eines – wortwörtlichen – Presslufthammers; ein schönes, anschmiegsames Bild, das sich als ambivalentes Gegenstück in den Sprach- und Erzählraum einfügt, ohne den Charakter einer künstlich daherkommenden Weichzeichnung zu haben, ist zum Beispiel das von Schaumstoff: »Körper, Gesten, Blicke, die dich geformt haben, kaum tauchen sie auf, erlöschen sie, zerstäuben in ihre Einzelteile. Sie haben Abdrücke hinterlassen, die ausgebeulten Stellen gehen wie Schaumstoff langsam, fast unmerkbar in ihre neuen Formen über. Die wenigen, die dich jemals berührt haben, sind in dir gespeichert.«

In gewisser Weise den Text berührt hat – oder von ihm berührt ist – die in Wien lebende iranische Komponistin, Klangkünstlerin und Tonmeisterin Rojin Sharafi, die einen tosenden Soundtrack zum Buch komponiert hat. Industrial und Atemstrom verbinden sich wie Synapsen zu einem atmosphärisch aufgeladenen Atomgewitter. Ein metallener (Nach-)Geschmack ist mit dem gleichzeitigen Hör-, Lese- und Vorstellungserlebnis verbunden, man tritt ein in einen Zauberwald der Ton- und Klangverästelungen. Risse und Kerben, Rauschen und Zittern, die Überlagerung von Resonanzkörpern umspannen nach und nach alle Sinne – und verstärken sie.

Die Wiener Autorin und Filmemacherin Iris Blauensteiner besitzt die wunderbare literarische Fähigkeit, eine durchdringende, vibrierende Nahbarkeit zu schaffen zwischen der »echten« Welt und einer auf Papier (und im Tonstudio) entworfenen. Nach »Kopfzecke« (2016) folgt nun ihr zweiter Roman »Atemhaut«; seine Lungen sind prall gefüllt, sein Herz pocht in der Brust der Leserinnen und Leser. Und sein Beat hört so schnell nicht auf zu schlagen.

Iris Blauensteiner Atemhaut
Roman mit Soundtrack von Rojin Sharafi.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2022.
160 S.; geb.
ISBN 978-3-218-01279-9.

Rezension vom 10.03.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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