#Sachbuch

aspern. Reise in eine mögliche Stadt

Thomas Ballhausen, Andrea Grill, Hanno Millesi

// Rezension von Lisa Spalt

Aspern, im 22. Wiener Gemeindebezirk gelegen, einst der größte Flughafen Österreichs, 1912 eröffnet, während der beiden Weltkriege Militärflughafen, 1977 für den Flugverkehr stillgelegt. Ziemlich genau 100 Jahre nach der Inbetriebnahme ist hier die Seestadt Aspern im Entstehen, eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas.

Rund 240 Hektar sollen verbaut werden, 20.000 Menschen Wohnung respektive Arbeit finden. Wohnen im Grünen und Urbanität sollen einander hier nicht mehr ausschließen, und auch sonst versucht man, neue Wege zu gehen. Manches – zum Beispiel die Idee von Baugruppen – erinnert an die Konzepte der „Recht auf Stadt“-Bewegungen. Und wie bei diesen, die für gewöhnlich selbsttätig ungenutzte Räume adaptieren, soll auch hier künstlerisches Potenzial eine bedeutende Rolle spielen. Von der KuratorInnengruppe content.associates wurde in Zusammenarbeit mit der Wien 3420 Aspern Development AG das Konzept einer kulturellen Zwischennutzung entwickelt. Und wie immer man nun dazu steht, dass diese in gärenden Stadtteilen für gewöhnlich bottom up wirkenden kreativen Impulse hier quasi von institutioneller Seite her gelenkt implementiert werden: Das gemeinsam mit dem Literaturhaus Wien entwickelte literarische Projekt stadt. schreiben ist jedenfalls ein äußerst gelungenes, besonderes. Das Konzept: Drei AutorInnen widmen sich als „StadtschreiberInnen“ einer noch nicht existierenden Örtlichkeit. Hanno Millesi, Andrea Grill und Thomas Ballhausen haben dieses Amt für die in Entstehung befindliche Seestadt Aspern übernommen – eine Aufgabe, die auf eine besondere Weise als literatur-architektonische verstanden werden kann. Bereits die Anlage als Palimpsest weist darauf hin, dass man hier schreibend Räume erschafft, um sie wieder zu verwischen, um „an ihrer Stelle“ wieder neue zu errichten, spielerisch mit Raum umzugehen. Die Entstehung von Räumen durch Thematik, Stil etc. wird erprobt, man spielt mit der Möglichkeit, literarisch die Vorstellung von Raum zu erzeugen, nützt verschiedenes Bildmaterial, größtenteils aus der Erzeugung der AutorInnen (manchmal entsteht dadurch der Eindruck eines Fotofilms, ein leiser Anklang an Chris Marker). Außerdem: Was ist das Hier und Jetzt des Textes? Hier, wo wir schreiben? Und ist das hier, wo Sie lesen?
„Das Reale wird doch schon längst durch lauter Zeichen des Realen substituiert. Ich bin mir dessen bewusst und auch, dass ein Satz wie dieser über meinem gesamten Text stehen könnte. Vielleicht sogar über meinem gesamten Leben“, schreibt Hanno Millesi gleich zu Beginn seines ersten Beitrags, der den Band aspern. Reise in eine mögliche Stadt eröffnet. Der Ort besteht erst wirklich, wenn er benannt ist, wenn ihn die Benennung aus dem Umfeld herausgeschnitten hat, so Millesis Erzähler sinngemäß an einer anderen Stelle des Textes. Dementsprechend erzeugt aber umgekehrt auch das Benennen, erzeugt der Text immer Räume – im Anfang war das Wort -, und manchmal begeht er außerdem noch schon vorhandene und macht durch seine Anwesenheit darin ganz neue daraus.
Millesis erster Text stellt uns ganz unprätentiös – und doch philosophisch durchsetzt – ein paar Räume vor: Siedlungen, die noch keinen Namen tragen und daher zum Untertauchen respektive als Halbwelt taugen; ein Sternbild aus gefalteten Socken, die die aus dem Fenster der Wohnung nicht sichtbaren Sterne ersetzen; literarische Räume, die uns unauffällig untergejubelt werden – zum Beispiel, wenn die verdrehten „zärtlichen“ Bilder mancher zeitgenössischer poetischer Richtungen bemüht werden, am sichtbarsten aber wahrscheinlich in der Passage, in der der Erzähler von der Heimtücke seiner Wohnung berichtet: Unweigerlich taucht die Erinnerung an Alfred Polgars Text Die Dinge und ähnliche Texte der Moderne auf, die den Bezug der Menschen zur so genannten Außenwelt, zu ihrem Raum, als problematisch, unheimlich darstellen. Die Menschen fühlten sich in diesen ihren Räumen nicht mehr zu Hause, und umso mehr geht es uns vielleicht heute so, da inzwischen die Zeichen sich vollends verselbstständigt haben und mehrheitlich (beispielsweise als riesiges Knotensystem des Internets) unsere Aufenthaltsräume definieren. Bei Andrea Grill stellt sich dann der fehlende Bezug aber auch noch anders, fleischlicher dar: Die Erzählerin, die in einer Mietwohnung lebt, stellt fest, dass sie zu ihrem Vermieter partout keinen Bezug mehr herstellen kann. Das Interface der Hausverwaltung regelt die Interaktionen zwischen – bezahltem – Gastgeber und Gästin, ein Lärm oder Parasit ist in diese kommunikative Beziehung eingetreten – Michel Serres‘ Der Parasit könnte entfernt grüßen lassen. Währenddessen entpuppt sich die Wohnung bei Millesi wiederum als eine Art Filter, der bestimmt, was der Erzähler zu sehen bekommt und was nicht – die Wohnung hat die Fenster nun mal sitzen, wo sie sie sitzen hat. Der Raum, der zur Verfügung gestellt ist und den die, die ihn nicht besitzen, nur quer zur Bestimmung aktualisieren können, um ihn zu ihrem zu machen – diese „Kunst des Handelns“ (Michel de Certeau) – gelingt hier mit Hilfe literarischer Thematisierung.
Jedenfalls aber ist Virtualität in diesen Texten Fokus, was das Konzept einer Stadtschreiberei, die sich ihre Stadt gleich selbst erschafft, umso zeitgemäßer, adäquater erscheinen lässt.
So findet sich in diesem Projekt Literatur mit der Frage konfrontiert, wo sie welche Bereiche des Lebens in welcher Architektur ansiedeln möchte. Und der Als-ob-Charakter des Unternehmens lässt an dieser „Stelle“ Millesi und Grill angenehm ironisch, witzig werden – leichthin formuliert sind die Passagen nie harmlos: Millesi lässt die „Natur“ selbst – ausgerechnet in Form einer Hauskatze (also: Was wir uns so unter Natur vorstellen)  – als architektonisches Orakel auf das zu bebauende Gelände los, bemüht das Klischee einer Natur, die weder irrt noch täuscht, thematisiert das prekäre Verhältnis, das wir zu unserem Begriff von Natur entwickelt haben, unsere teils blödsinnige Blüten treibende Sehnsucht. „Wo Cindy nachdrücklich miaut, könnte ein Kongresszentrum entstehen, wo ihr ein dicker Haarknäuel hochkommt, ist eine Schule vorstellbar. Spaß beiseite, an diese Stelle gehört natürlich ein Krankenhaus.“
Andrea Grill palimpsestiert die Passage ausführlich. Sie befragt über weite Strecken ihres Beitrags jene zum Projekt der neuen Stadt, die naturgemäß sonst nicht zu Wort kommen können – Tyto alba, die Eule, Musca domestica, die Hausfliege (Musca ist übrigens auch der Name eines Sternbilds), am Ende Casa, das Haus selbst – und erreicht dadurch die Herstellung ganz unerwarteter Perspektiven und Einsichten.
Ballhausen indes lässt durch die Öse der Ödnis, die sich seinem Auge im Aspern-Gebiet bietet, die Geschichte in die Gegenwart schlüpfen, sodass sie sich zeitgemäß wenden kann. Das Feld war 1809 der Schauplatz einer Schlacht gegen das Heer Napoleons gewesen. Nun fallen Kriegsschauplatz und Brachland ihrer Oberfläche nach in eins – und der Erzähler stellt außerdem fest: „der ursprüngliche Kontrast zwischen Umwelt und Bauten, nun sind beide gleichermaßen Ausdruck des Krieges.“ Nun ist es also die Beschaffenheit der Projektoberfläche des Geländes selbst, die als Zeichen fungiert, die Zeit aushebelt und die historische Gegenwart des Krieges in die Virtualität aufhebt. Die Frage nach dem Hier des Textes ist gewendet in die nach dem Ort und der Zeit des Ichs in der Sprache, die „über“ den Ort, die Zeit (und simultan am Ort, in der Zeit) spricht: „das sind nicht meine Worte, das sind nicht meine Sätze, aber nun spreche ich sie aus, und sie werden dazu, dabei erkennen, was in mir verborgen ist, was mir fremd ist und doch zu mir gehört, verstehen, dass da auch etwas aus mir spricht, das ganz und gar ich bin.“ Wer spricht, wo ist das Ich und erzeugt mit seinem Sprechen Raum? Die Medien durchdringen das sprechende Ich, es ist Schauplatz des Krieges, über den berichtet wird, das sind die neuen Geister, die uns besessen machen, es gibt kein Außen und Innen mehr. Die Unmöglichkeit, den Vermieter zu erreichen, ist hier radikalisiert bis dorthin, wo alles zum Eigenen und alles zum Fremden wird und doch niemand mehr erreicht werden kann, wo alles sich in die Schatten der Medienwelt verwandelt hat, wo man sich nach nichts mehr sehnt als nach physischen Empfindungen, und wären es Schmerzen, man freute sich über sie. Die Vergegenwärtigung des historischen Geschehens lässt mitten in der Welt der Bildschirme Rüstungen und Harnische auftauchen, hier erklärt uns endlich jemand die Ästhetik der Science-Fiction. Und wieder wird die Rolle der Symbole thematisiert: Sie sind uneinlösbar geworden. Sie „haben sich in ihrer Funktion vom Garanten der Erneuerung zum Zerstörer verschoben, wir sind aller Welt Feind geworden.“
Welche Rolle aber spielt hier die Literatur? Sie entspringt, so diese unortbare Stimme, die Ballhausen inszeniert, der „Notwendigkeit, meine Stimme, meine Worte dem Chor entgegenzusetzen, auf die Worte und ihre Macht zu bauen, diese begrenzten Räume zurückzufordern, sie zu benennen, als hätten sie zuvor keine Namen gekannt, als würden sie einer Ordnung wie Untertanen harren“. Ganz in diesem Sinn solcherer (temporärer, immer wieder palimpstestierter) Aneignung von Umwelt erfahren Sie in diesem Buch etwas über das Hinein- und Hinausgehen, über die tiefere Bedeutung und die Meinungen der Haustiere, über die Schnittstellen von Krieg, Beziehung und Spiel, Geschichte und Virtualität, über die Erotik der Rolltreppe, existenzielle Countdowns, die durch Baufortschritte beschriftet werden usw. usf. Und das alles verstehen Sie dann sowohl bildlich als auch … nun, eben anders – als Handlungs- respektive Spielanweisung zum Beispiel, die ein literarischer und damit zu interpretierender Text sein kann: aspern ist ein reiches, bezugsreiches, kluges Buch, ein feines Vexierspiel und eine in hohem Grad offene Architektur, die – oftmals ironisch – allerhand historische künstlerische/literarische Bewegungen streift und die bereitgestellt wurde, damit wir uns darin bewegen und letztlich auch aus ihr heraussteigen können, in eine andere, vielleicht materielle Welt, die nichtsdestotrotz eine symbolische ist.
Ein in mehrfacher Hinsicht brauchbares Buch – drei psychogeografische Spielangebote aus dem Buch zu diesem Thema zu erwähnen (man fühle sich, nur zum Beispiel, bei diesen erfreut an Ladislav Nováks Gedichte für bewegte Rezitation erinnert): 1.) Man könnte doch, so Hanno Millesi, nicht nur den EU-Vorsitz unter den Staaten rotieren lassen, sondern auch z. B. die Sportmannschaften und Regierungen, was der Bildung von Nationalismen durchaus vorbeugen dürfte. 2.) „Nimm den Stadtplan einer beliebigen Stadt zur Hand und lege ihn über den Stadtplan der Stadt, in der du unterwegs sein möchtest. Markiere nun auf der oben liegenden Karte alle Punkte, die von Interesse für dich sind: Denkmäler, berühmte Cafés, Verkehrsknotenpunkte usw. Stich mithilfe einer Nadel durch diese Punkte Löcher durch beide Stadtpläne und besuche anhand des darunterliegenden Plans die so neu entstandenen Sehenswürdigkeiten.“ 3.) „Lass dir von einem Mitspieler deines Vertrauens die Augen verbinden. Von dieser Person lässt du dich durch diverse Gebiete der von euch durchquerten Stadt führen. Versuche dabei zum Beispiel insbesondere auf die sich durch die Verschiebung der Sinneswahrnehmungen bedingten Effekte oder die Reaktionen der Umwelt zu achten.“ – Gestern, am 3.9.2013, auf dem Weg durch den Linzer Volksgarten mehrere junge Menschen beobachtet, die andere, deren Augen verbunden waren, darin herumführten – und das Buch ist noch nicht einmal erschienen …

Thomas Ballhausen, Andrea Grill, Hanno Millesi aspern. Reise in eine mögliche Stadt
Wien: Falter, 2013.
152 S.; brosch.
ISBN 978-3854394983.

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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