Ein klugscheißender Schuster, der nicht bei seinen Leisten geblieben, sondern zum echten Arbeiten in die Berge nach Arndorf gekommen ist, verleiht der Erzählung einen didaktischen Drive. Im Ort wurde im neunzehnten Jahrhundert Hittrach (Hüttrauch) gewonnen und verkauft, die Lieblingsdroge der steirischen Rossknechte, von deren leistungssteigernder, aber gar nicht nachhaltiger Wirkung (für Mensch und Tier) auch Peter Rosegger berichtet. Dieses Arsenik ist in Arndorf ein Nebenprodukt des Bergbaus und immer noch oder wieder im Umlauf.
Ein lehrerhafter Selbstsucher, der den Erklärbär gibt, und andere Romanfiguren, die sich so ihre Gedanken über die Zukunft von Arndorf machen, liefern im letzten Drittel des Buchs auch ein paar historische und praktische Ausflüge zum titelgebenden Arsen (also keine Notwendigkeit, in der Mitte des Romans zu googeln). Dass die Ausführungen eher willkürlich einer der Figuren in den Mund gelegt werden, zeigt aber auch das Hauptproblem: Das gesamte Romanpersonal wird ästhetisch lieblos behandelt und bleibt flach.
Auch dass die Erzählinstanz jeder einzelnen Figur ohne Ansehen ihrer Funktion im Gewebe der Erzählung ihre Sympathie verwehrt, führt zu einer Beliebigkeit der grundsätzlich nachvollziehbaren Kritik an der Vermarktung der Landschaft, der Verklärung eines harten Lebens und der als Technikskepsis getarnten Rückwärtsgewandtheit. Es ist erwartbar, dass sich die Erzählinstanz weder dem orientierungslosen Städter aus der Industriellenfamilie noch dem passiv-aggressiven Frauenversteher zugeneigt fühlt. Gleichermaßen werden aber die esoterische Trainerin in der Midlifecrisis und die Hundebesitzerin, die sich nach dem Tod ihres Tieres ihrer Trauer hingibt, bloßgestellt. Und für die Bloßstellung braucht es eine Menge Mansplaining, auch von Seiten der Frauen. Nachdem Vera einen Vortrag über Verschwörungstheorien in unsicheren Zeiten gehalten hat, bestätigt ihr die Seminarleiterin Anastasia, was sie, Vera, immer schon gewusst hat: „Du bist etwas Besonderes“.
Bei Gelegenheit solcher kolumnenhaft anmutenden Erläuterungen findet sich aber etwa auch die Beobachtung, dass Hunde für das Ego eines Menschen jedenfalls besser sind als Babys, „was viele Leute bestätigen konnten, die sich aufgrund falscher Erwartungen ein Baby angeschafft haben.“ Gelungen ist die überzogene Parodie des vorgeblich persönlichkeitsbildenden und selbstoptimierenden Seminarsprechs. In einem Aufwaschen werden in Hofers stark überzeichneter Servus-Welt aber auch gastronomische Newcomer gebasht, die alte Landgasthäuser modernisieren, und der mitteilsame Schuster weist auf die dubiose Herkunft der ländlichen, gerade wieder hoch im Kurs stehenden Tracht hin: „Bauerncosplay von Adeligen“ – eine griffige Formel, die man sich merken kann.
Patrick ist der Typus Aussteiger, dem der fernöstliche Strand zu unbequem wird und der deshalb lieber das Aussteigen light in der Heimat pflegt. Da trifft es sich gut, dass Arndorf eine Tradition als Wohnort der Außenseiter hat. Neben den verlassenen Hütten der Armen gibt es ein Haupthaus mit „jagdschlossartiger“ Struktur, die „ein bisschen so ausschaut wie das Haus von der Verfilmung von Die Wand“. Vom existenziellen Auf-sich-selbst-Gestelltsein der Protagonistin Marlen Haushofers sind die Figuren in Arsen aber denkbar weit entfernt und für die Absurdität der Selbstfindungstrips der Hyperindividualisten hat die Autorin einen scharfen Blick. Rupert will ein „gesellschaftlich verifizierbarer Eremit“ sein, die Lebenslüge der spirituell Desorientierten steckt in einem Satz: „Jeder will besser und schneller erleuchtet sein als die anderen.“ Anastasia, die blendende Einfälle für Zirben- und Arsenprodukte hat und mit Spiritualität ihr Geld verdient, weiß um die marketingtechnische Bedeutung des guten Storytelling und fängt für ihre eigenen Zwecke mehr oder weniger bei Adam und Eva an. Aber „die Leute über 1500 Meter Seehöhe entwickeln manchmal eine ganz eigene Form der trotzigen Bösartigkeit“, und so wird die Zukunft von Arndorf wahrscheinlich doch nicht im Arsen liegen.
Arsen ist eine Art lustiger Anti-Heimatroman, der spießige Sinnsuche in der Natur, fanatisches Achtsamkeitsgebrabbel, wirtschaftlich ausgebeutete Wanderlust und reaktionäre Pseudowissenschaftlichkeit gleichermaßen aufs Korn nimmt und dabei alles in allem öfter danebenschießt als trifft. Es ist ein unentschiedenes Buch, das sein Spottziel nicht deutlich vor Augen hat und seinen Figuren weder im Guten noch im Bösen Gerechtigkeit widerfahren lässt. Nach so viel zahmer Satire hat die Rezensentin das dringende Bedürfnis nach der Lektüre eines ehrlich unehrlichen Servus-Hefts.
Karin S. Wozonig, Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Anglistik/Amerikanistik und Germanistik an der Universität Wien und UCLA (USA). Publikationen zur deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts und zur Chaostheorie. www.karin-schreibt.org