#Sachbuch

Arche Literatur Kalender 2010

Klaus Blanc, Elisabeth Raabe (Hg.)

// Rezension von Ulrike Diethardt; Evelyne Polt-Heinzl

Kalender sind eines der wenigen Segmente, wo die Buchkultur einen Trend erkannt und für sich und ihre Imagepflege profitabel genutzt hat. Seit vielen Jahren wächst die Zahl der mit anspruchsvollen Zitaten und Bildern arrangierten Literaturkalender zu allen Lifestyle-Interessengebieten des gehobenen Lesepublikums: Literatur, Musik, Frauen, Garten, Reisen, Katzen, Kochen – Architektur und Wein gibt es bestimmt auch schon.
Eines der renommiertesten und traditionsreichsten Unternehmen dieses Genres ist der seit 1985 bestehende Arche Literatur Kalender, der seit heuer mit dem Arche Kalender Verlag ein eigenes Boot geentert hat.

Das Jahr 2010 steht unter dem Motto „Schreiben & Lesen“ und zeigt am Cover 2010 Susan Sontag, mit der das Arche Kalenderjahr 2009 endete. Am sorgfältig arrangierten Schreibtisch sitzend, steht sie für „die Lust und Leidenschaft, zu schreiben und zu lesen“, das ist allemal ein guter Aufmacher zum Thema. Schon mit ihrem unrunden Schnapszahljubiläum: sie hätte am 16. Januar ihren 77. Geburtstag gefeiert, wäre sie nicht im Dezember 2004 verstorben. Der Markt- und Medienzwänge korrigierenden Emanzipation von der runden Jubiläumszahl sind eine ganze Reihe der 52 „Wochenregenten“, 13 davon sind „-regentinnen“, des Archejahrs 2010 verpflichtet: Fabrizia Ramondinos 74. oder John Updikes (er verstarb im letzten Jahr) 78. Geburtstag gelten ebenso wie Pirandellos 74. Todestag, Raymond Carvers 22., Sandor Marais 21., Ernst Tollers 71. und Anna Seghers 27.

Weitgehend systematisch werden hingegen die Themenfelder rund ums Lesen und Schreiben abgesteckt. Es beginnt mit der „stundenlangen, vielleicht tagelangen Konfrontation mit dem weißen Papier“ der am 2.1.2009 verstorbenen Lyrikerin Inger Christensen und endet mit der Beschwörung der notwendigen Einsamkeit für das Schreiben von Paul Bowles, der am 30. Dezember 2009 seinen 100. Geburtstag hätte. Denn die ganz runden Gedenktage sind natürlich auch alle zu finden: Camus 50., Walter Benjamins 70, Kurt Tucholskys 75. oder Mark Twains 100. Todestag, genauso wie D. H. Lawrence 125., Ferdinand Freilingraths 200., Jean Anouilhs 100. oder Kurt Hillers und Ezra Pounds 125. Geburtstag.

Entdeckungen sind wie immer auch darunter, die afroamerikanische Autorin Zora Neale Hurston (50. Todestag), der chinesische Autor Ba Jin, der vor 5 Jahren einhunderteinjährig und zumindest hierzulande kaum bekannt verstarb, oder auch Elisabeth Langgässer – ihr 60. Todestag ist so gut wie jeder andere Zeitpunkt geeignet, die Bücher dieser Autorin vielleicht wieder einmal neu zu lesen. Österreich ist mit H. G. Adler, Arthur Koestler, Ernst Jandl und Rainer Maria Rilke dieses Jahr eher schwach vertreten.

„Schriftsteller haben zu schreiben, nichts weiter“ lautet der berühmte erste Satz aus Agatha Christies Autobiographie, der hier zu ihrem 120. Geburtstag zitiert wird, daneben ein Foto der Autorin am Schreibtisch, gerahmt von den, zwei mächtige Säulen ergebenden Stapeln ihrer Werke. Zum Thema Inspirationsprobleme sehen wir Peter Rühmkorff lost in der Villa Massimo in Rom; die personifizierte Konzentration zeigt hingegen das Bild des schreibenden Friedrich Dürrenmatt (20. Todestag), der ein Leben lang mit seinem Schwanken zwischen Malerei und Literatur haderte. Patricia Highsmith erklärt, weshalb sie „geistig wie körperlich auf dem Rand meines Stuhles“ sitzen musste, um Mr. Ripley zu erfinden. Mit ihren Brotberufen sind George Orwell als Kritiker oder der Lektor Alain Robbes-Grillet vertreten, der eingegangene Manuskripte, die ihn nicht gleich überzeugten, „zum Reifen“ in einem griffbereiten Regalfach zwischenzulagern pflegte.

Heinrich Mann gibt Handlungsanweisungen für das Lesen im Bett, es geht um ein Buch seines Bruders Thomas. Christa Reinig räsoniert über die Absenz der sorgenden Schriftstellergattin im Leben von Schriftstellerinnen, Hermann Hesse lobt seine Schreibmaschine, Walter Benjamin verabscheut sie. Und ein Scherenschnitt von Sophie Mereau, due als Fräuleinwunder der Goethezeit startete, demonstriert den Zusammenhang zwischen zeittypischer Mode – mit den vielen Maschen und Rüschen im Haar wie am Dekolletee, all den reich gegliederten Lockentürmen und -wellen – und der Beliebtheit des Scherenschnitts.

Das Angebot des Archejahrs für 2010 ist reichhaltig wie immer. Ganz selten verwirren oder verwundern die ausgewählten Zitate, etwa dass Iris Murdoch nicht selbst zu Wort kommt, sondern just mit einem Zitat von Elias Canetti – dessen wenig objektive Zeichnung der Damen seines Umfelds bekannt ist – weniger zum Sprechen als zum Schweigen gebracht wird. Und ein wenig stutzt man über die Abfolge von der ersten zur zweiten Juliwoche: Auf H. G. Adler, geboren 1910 in Wien, der drei KZs überlebte und seine dort entstandenen Gedichte nach 1945 in sein Auswanderungsland Großbritannien retten konnte, folgt Gottfried Benn (54. Todestag) mit einer Beschreibung seiner Schreibtischlandschaften. Vom österreichischen Autor und Verleger Erich Fitzbauer stammt übrigens die Idee der posthumen Versöhnung verfeindet gewesener AutorInnen als ein mögliches Ordnungsprinzip am eigenen Buchregal. Die dritte Juliwoche bringt dann zum 20. Todestag Heinrich Bölls eine schöne Bild-Text-Gegenüberstellungen: In einem seiner Soldatenbriefe schreibt Böll 1942 von der „maßlosen“ Freude darüber, dass er eine Stunde lesen konnte; am Foto steht der Großschriftsteller im Jahr 1970 vor seiner Bücherwand. Das zeigt gewissermaßen den Weg eines Autors im Spiegel seines Leserlebens. Nicht visualisierbar ist das rasche Verblassen seines Erfolgs; der halbe Jubiläumstag – und eine soeben erschienene Böll-Biografie könnten vielleicht auch hier Anlass zur Neulektüre werden.

Nur aus Geschmacksgründen an der Auswahl von AnthologistInnen zu zweifeln, ist natürlich unzulässig. Bei Cesare Pavese (60. Todestag) steht ein Lebensüberdruss und juvenile Schwermut formulierendes Zitat des 19-jährigen Autors. Da möchte man das Zitat eines anderen halbrunden Jubilars dazu denken: „Was die Künstler machen müssen – und die Kritiker verteidigen und alle Demokraten in einem entschlossenen Kampf von unten unterstützen müssen –, sind Werke, die so extremistisch sind, dass sie selbst noch für die aufgeschlossensten Ansichten der neuen Macht(-haber) inakzeptabel sind.“ Das schrieb Pier Paolo Pasolini kurz vor seiner Ermordung am 2. November 1975 (Dank an Alexander Emanuely).

Klaus Blanc, Elisabeth Raabe (Hg.) Arche Literatur Kalender 2010
Schreiben und Lesen.
Gestaltung: Max Bartholl.
Textauswahl: Klaus Blanc, Elisabeth Raabe.
Fotoauswahl. Regina Vitali.
Zürich, Hamburg: Arche Kalender, 2009.
24 x 28 cm; Spiralbindung; m. Abb.
ISBN 978-3-7160-6010-2.

Rezension vom 30.12.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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