Wenn das Leben geordnet ist wie ein Linienbusfahrplan, und Mutter Mechthild darüber wacht wie eine Gefängniswärterin, dass ihr Sohn Anton am Ende des Tages sagen kann: Es ist schon wieder nichts passiert (leider auch nicht mit Nachbarin Doris) – dann ergibt sich daraus eine gewisse Trägheit. Solange die Versorgungslage stimmt, fühlt sich die Welt immerhin in Ordnung an. Aber wer sagt, dass sich ein Busfahrer immer an den Fahrplan halten muss?
René Freund hat mit seinem jüngsten Roman Ans Meer ein Buch darüber geschrieben, was es heißt, die Vernunft über Bord zu werfen und dem Gefühl zu folgen, die gewohnten Alltagsrituale zurückzulassen und alles aufs Spiel zu setzen, um jemanden glücklich zu machen. Und das zu tun, was man selbst möchte – und nicht, was andere für gut und richtig halten.
Symbolisch wie auch wörtlich schert der Busfahrer Anton eines Tages aus, verlässt seine Linie und fährt mit dem Linienbus ans Meer. Mit dabei ist eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft aus Fahrgästen, die ihn begleiten. Allen voran die Anstifterin des Unternehmens: die krebskranke Carla, die noch einmal ihren Heimatort sehen möchte, eine Bucht bei Duino. Begleitet wird sie von ihrer Tochter, die den Rollstuhl schiebt, einigen weiteren Schulkindern und der dementen Frau Prenosil, die nicht gleich mitbekommen hat, dass die Route heute geändert ist. Ganz im Gegensatz zu Nachbarin Doris, der sofort klar ist, dass sie jetzt ein Auto braucht, um dem Bus und seinem Fahrer nach Süden zu folgen.
Ans Meer ist ein Buch über das Nicht-Funktionieren, unplanmäßige Änderungen im Lebens-Fahrplan (der Krebs war keine Wunschstation) und der Kunst, sie zu nehmen, wie sie sind. Es ist ein Buch über Freundschaft und Solidarität, über Sehnsüchte und Sehnsuchtsorte und darüber, dass man manchmal jenseits der Vernunft erst so richtig lebendig wird – und sei es auch erst kurz vor dem Tod. Und es ist ein Buch über die Liebe und über Vertrauen.
In klarer, einfacher Sprache erzählt René Freund, wie sich Menschen näherkommen, indem sie den Mut dafür zusammennehmen, ihre gewohnten Bahnen zu verlassen. In kurzen Szenen wird zwischen Anton und seiner Busgesellschaft und der Nachbarin Doris hin und her geblendet, wird erzählt, wie die Gesellschaft sich mehr und mehr auf der Flucht (vor der Polizei) befindet, wie dann doch die Konsequenzen für das Handeln zu tragen sind – und wie es sich trotzdem gelohnt hat. Mit leisem Humor und viel Mitgefühl für seine Figuren schildert René Freund die Emanzipation eines sympathischen Anti-Helden. Happy end? Das ist relativ. Lesen Sie selbst.