#Prosa

Anomia

Lukas Kollmer

// Rezension von Roland Steiner

In der Schlüsselszene von Lukas Kollmers Debüt „Schlächtervergessen“ (2005) begegnet der Ich-Erzähler dem Leibhaftigen, in seiner nunmehr zweiten Novelle wiederholt sich die Szene, bloß darf der Erzähler jetzt Gott spielen. Ab diesem Wendepunkt weichen die Schilderungen seiner Selbstzerstörung jenen der gesteuerten Weltzerstörung.

Der namenlose Ich-Erzähler ist ein Gewichte (und Verzweiflung) stemmender Schriftsteller mit ausgeprägtem Hang zu pathetischen Metaphern und Zynismus. Beinahe alles, was er tut, könnte mit psychiatrischem Fachvokabular beschildert werden. Schreibt er, dann manisch: „Es kann keinen zweiten Menschen geben, der so wie ich Worte benutzt, missbraucht und zerstört.“ Tobt er, dann in psychotischer Manier, und kompensiert er seine Einsamkeit, dann säuft er selbstzerstörisch. Herkömmliche Moralbegriffe taugen zur Einordnung dieses „Arbeit, Saufen, Schreiben“ als „göttliche Triangel“ empfindenden Bipolaren nicht, zumal er sich in einer Gesellschaft ohne traditionelles Normengefüge befindet. Anomia – und selten wird ein Buchtitel seinem Inhalt so gerecht – meint denn auch des Protagonisten Entfremdung gegenüber der sozialen Welt und sich selbst. Der freudschen Problemumkehr gemäß verabscheut er den kreativen „Selbsterfüllungs-Pragmatismus“ als „Ausklingen eines Traumas, das man erlitten hat, als man auch mit den letzten moralischen Ansprüchen vor sich selbst gescheitert ist.“

Zu kämpfen hat dieser „letzte Philosoph des Niedergangs“ mit einem frustrierenden Teilzeitjob als Museumsaufseher, seiner schauspielernden, therapiebedürftigen Cecilia und dem Faktum, dass Heroin billiger zu haben ist als Rasierklingen. Ihm Eskapismus vorzuwerfen, fällt angesichts des äußeren Feindeslands schwer. Denn auf den Straßen tummeln sich Panzerwagen, Kampfhunde und Riesenratten, zwischen Müll und Fassadentrümmern verwesen Kinderleichen.
Die kontrastlose Beschreibung dieser devastierten Stadt (Dialekteinsprengsel deuten auf Wien hin) und einer überwachten Gesellschaft voller Gewalt und Verachtung bewältigt Lukas Kollmer mit großer Sprachmacht.

Den Menschen wurden Chips implantiert, die persönliche Informationen aussenden,den Nahrungs-, Job- und Medizinzugang regeln, und deren Deaktivierung zumindest den sozialen Tod bedeutet. Bloß ein paar Hacker-Aktivisten versuchen den Unterdrückungskreislauf zu stören. Kontrolliert werden sie alle von „Post-Massengesellschaft-Kommunarden“, die mit Opferblut trinkenden Killertruppen kooperieren und sich „Superfluids“ genannte Humanoide als kindliche Sexsklaven halten. „Start dyin“ lautet der Slogan dieser Kommunarden, und Tote gibt es in Kollmers zweiter Buchhälfte zuhauf.

Der beschäftigungslos gewordene Erzähler wird von Piet Hasenform, dem Filmproduzenten bei Croqués Ltd., in dessen pseudowissenschaftlich argumentierte Vernichtungsindustrie eingeführt. Als Drehbuchautor und Filmgott engagiert, wirkt er sodann an Hasenforms Projekt einer rituellen Opferung von „Transsubstaten“ mit – seriell gezüchtete Kreaturen, die auf gesteuerte Weise platzen, der Nahrungsindustrie und so der Gewöhnung an Kannibalismus dienen. Das Projekt ist Teil von Hans Croqués‘ Experiment einer radikalen Weltbevölkerungsreduktion. Die Visionen dieses drogenabhängigen Anführers einer Elite homosexueller Altfaschisten – Sozialdarwinismus, eugenische Selektion, systematische Folterung, Lebensborn-Anstalten – decken sich mit jenen der Nationalsozialisten, treffen in dieser Endzeitnovelle aber auf avancierte Gentechnologie.

Hier jedoch muss der surreal überspitzende Schreibgestus des 32-jährigen Wiener Autors versagen. Der NS-Wahn eignet sich auch in einem apokalyptischen Setting nicht für Überzeichnungen heutiger Kontrollrealitäten.
Ab dieser Begegnung wendet sich die Geschichte und die Ich-Perspektive tritt denn auch zugunsten jener von Croqués‘ Bediensteten wie Psychologin Belle-Triste oder Primar Clusterfresse zurück; wir lesen Reden zur Gnosis, Manöver- und Verhörprotokolle. Die Inhalte dieser adäquat dargebrachten Militär- und Marketing-Textsorten zeugen von Recherche und lassen zusätzlich frösteln. Auch wenn sie als Prosaminiaturen für sich stehen könnten, so sind sie doch eingebettet in die faschistische Philosophie des Angst generierenden Potentaten.

In den stärksten Passagen seiner Novelle zeigt Lukas Kollmer die Subordination unter gentechnische Manipulation und medialen Gewalttransfer mittels körperlicher Sprachdrastik. Die Gefühlsarmut seiner Figuren konturiert er mit fleischlichen Narben, deren Narbengewebe die implodierende Megalopolis darstellt. Zwischen H. P. Lovecrafts Metaphysik, William S. Burroughs‘ Drogenphantasien und David Cronenbergs Horrorästhetik scheint dieser Duktus angesiedelt, der trotz des Alptraumhaften auch bitterkomische Momente hat.

Lukas Kollmer Anomia
Novelle.
Wien: Luftschacht, 2009.
165 S.; geb.
ISBN 978-3-902373-38-0.

Rezension vom 10.03.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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