#Roman

Anima

Jürgen Thomas Ernst

// Rezension von Gerald Lind

Jürgen-Thomas Ernsts Roman Anima ist eine zeitlose Parabel, die archaisch geglaubte Verhaltensmuster und das Grausame, Dunkle in und zwischen den Menschen beschreibt.

Die Macht des Äußer(lich)en und die normierende Kraft der Gruppe bestimmen den Text, alles nicht dem allgegenwärtigen Durchschnitt Entsprechende wird mit kollektiven Angstphantasien aufgeladen, wird ausgestoßen, sanktioniert und schließlich getötet. Mit seiner Hauptfigur Anselm Eder, den schon die Hebamme für „eine Ausgeburt des Leibhaftigen“ (23) hält, bezieht Anima jene Position in einem seit Jahrhunderten geführten Diskurs zur Ästhetik des Hässlichen, die für einen Blick auf die Seele (lat. Anima) und die Wahrnehmung des Schönen im vermeintlich Abstoßenden eintritt.

Um die ethisch-moralische Botschaft des Romans transportieren zu können, konzipiert Ernst seine Hauptfigur als dichotomisches Wesen mit entstelltem Äußeren und strahlendem Inneren. Denn der von allen, auch und besonders vom eigenen Vater verabscheute Anselm ist ein nach moralischen Prinzipien handelndes Wesen, auch wenn seine Wertvorstellungen nicht mit einer herkömmlichen christlichen Moral korrelieren. Aber Anselm Eder ist auch in seinem physischen Inneren, in seinen Innereien sozusagen, besonders: Er hat Anima, hat die Seele und den Atem des geborenen Läufers, ist ein „evolutionäres Experiment“ (164), bestimmt vom „Pulsschlag der Natur“ (61), ein verkanntes „Genie“, mit dem „vegetativen Zwang, laufen zu müssen.“ (71)

Über den zentralen Topos der übermenschlichen Fähigkeiten – die unendliche Ausdauer beim Laufen – in einem nahezu unmenschlich wirkenden Wesen kreiert Ernst in seinem historischen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im vorarlbergischen Hohenems spielenden Roman eine übersinnliche Ebene. Die Menschen haben Recht und Unrecht, wenn sie meinen: „[D]ie Zeit der Hexen und leibhaftigen Teufel konnte angesichts dieser Ausgeburt unmöglich vorüber sein.“ (42) Und Anselm bewirkt etwas in jenen, die mit ihm in Berührung kommen, alle, die ihm Schlechtes wollen und tun, sind letztendlich dem Untergang geweiht. Es scheint, als ob durch die mythische, fast messianische Züge tragende Figur des Anselm Eder die unsichtbare Hand einer schwer fasslichen und fassbaren Natur-Gottheit wirken würde.

Jürgen-Thomas Ernst hat mit Anselm Eder eine äußerst spannende und lange im Gedächtnis bleibende Figur erschaffen. Auch die Einbettung dieser Figur in historische, religiöse und anthropologische Kontexte sowie die Darstellung von Exklusionsstrategien, die vom kollektiven Imaginären – als Unbewusstes und Begehren – gelenkt werden, sind Ernst recht gut gelungen. Subtil allerdings ist Ernsts Roman nicht. Die Über- und Zuspitzungen von Verhaltensweisen sind einseitig, der Text nutzt hier nicht die Möglichkeiten der Romanform aus, ein vielschichtiges und ausdifferenziertes Gesellschafts- und Menschenbild zu zeichnen. Plakativität, der Einsatz von Effekten und die moralisierende Binarität rücken „Anima“ in die Nähe von gut gemachten Hollywood-Filmen. Vielleicht ist Anselm Eder also ein Vorarlberger Forrest Gump des 19. Jahrhunderts, der nach einfachen Grundsätzen handelt, nicht übermäßig intelligent, aber schlau ist, und sich immer irgendwie auf eine ganz merkwürdige Weise aus der Gefahrenzone zu begeben vermag.

Ein literarisches Meisterwerk ist Anima nicht, dafür sind manche Handlungselemente zu naiv, dafür ist auch das Ende der Legende von Anselm Eder – wenn auch erzähltechnisch gut gemacht – zu platt und klischeehaft. Auch gibt es stilistische Fehlgriffe und nicht jeder der zahlreichen Einfälle des Autors geht auf. Aber Ernst vermag mit seinem Roman positive wie negative Emotionen und starke, lange nachwirkende Bilder zu evozieren. Die außergewöhnliche Figur des Anselm Eder wirft Fragen auf, die nicht vorschnell beantwortet werden sollten. Jürgen-Thomas Ernst ist ein ideenreicher, phantasiebegabter Autor, der mit Anima zwar keinen makellosen Roman, aber doch eine außergewöhnliche Geschichte vorgelegt hat.

Jürgen Thomas Ernst Anima
Roman.
Wien: Braumüller, 2010.
252 S.; geb.
ISBN 978-3-99200-015-9.

Rezension vom 19.10.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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