Glaubt man Alexander Honold, dann hat diese Veränderung des Ortes und des Werkzeugs auf Kafkas Schreibweise einen größeren Einfluss ausgeübt als alle Nachrichten vom Tod des Kaisers Franz Joseph, von der Einführung des Stahlhelms an den Fronten des Stellungskrieges oder was sich im bewegten Jahr 1916 sonst noch ereignet haben mochte.
Honolds Aufsatz „Initiationen und Initialen. Franz Kafka in seinen Oktavheften“, dem dieses bezeichnende Detail entnommen ist, gehört zu einer Sammlung von 16 Abhandlungen, die wiederum Teil eines wissenschaftlichen Großprojektes sind, das den Titel „Zur Genealogie des Schreibens“ trägt. In mittlerweile 13 bei Fink erschienenen Bänden sind die Ergebnisse des Forschungsprojekts dokumentiert. Diese Schriftenreihe, die vom Schweizer Germanisten Martin Stingelin herausgegeben wird und unter starker Schweizer Beteiligung zustande kommt, versammelt philologische Untersuchungen, die sich auf unterschiedliche Aspekte des Schreibprozesses konzentrieren. Und bei allen methodischen und thematischen Verschiedenheiten haben die hier versammelten Forschungen das Interesse für die Materialität des Schreibens gemeinsam: Hier werden nicht nur geistige Phänomene ernst genommen, sondern eben auch Fragen wie die nach dem Einfluss der Schreibmaterialien auf die Textgenese.
Der vorliegende Band befasst sich nun im Besonderen mit dem Problem des „Anfangens“, das sich als äußerst vielschichtig erweist: Gefragt wird etwa nach den Mythen und Selbstdeutungen, die einen Menschen dazu ermächtigen, leere Blätter mit Schriftzeichen zu füllen und sich durch eben diese Tätigkeit zum Autor zu ernennen. Hermann Burger zum Beispiel machte mancherlei „Hokuspokus“, um seine Texte in Gang zu bringen. Wie Silvia Henke darstellt, stilisierte er sich zum „Mann aus Wörtern“, der seine Geburt entweder einer „künstlichen Mutter“ verdanke, oder aber einer, die während der Geburt gestorben sei – das war eine Phantasie ohne autobiographische Grundlage. Burgers Mutter starb keineswegs bei seiner Geburt, aber der Autor bedurfte solch selbstherrlicher Mythen der Selbstermächtigung, um mit dem Schreiben anfangen zu können. Als besonders aufschlussreichen Spezial- und Extremfall einer solchen Schreib-Ermächtigung untersucht Andreas Mauz die Vorstellung der „Federführung“ im „heiligen Text“: Am Beispiel des mit der Hand geschriebenen Werkes „True life in God“ von Vassula Ryden zeigt Mauz, wie es einer mystisch inspirierten Autorin auch heute noch gelingen kann, sich sozusagen als Sekretärin Christi in ihrem Text zu etablieren: Sobald ihr Jesus seine Gedanken diktiert, verwandelt sich sogar ihre Handschrift, sie wird größer und eindrucksvoller, während sie in den Überleitungen, die Vassula Ryden selbst verfasst hat, klein und bescheiden bleibt. (Hochkulturell spezialisierten Literaturwissenschaftlern wird Vassula Ryden vermutlich kein Begriff sein. Ein Blick ins Internet zeigt aber, dass ihr digitalisiertes Christus-Diktat weltweit gelesen und in gläubiger Ergriffenheit rezipiert wird. Aus dem Aufsatz von Andreas Mauz kann man lernen, wie „heilige Texte“ dieser Art zustande kommen.)
Sonst wird an weltlicheren Beispielen untersucht, welche Tricks und Selbstüberlistungen die Autoren anwenden, um dem Horror vacui des leeren Blattes zu entkommen: Jean Paul etwa verließ sich, wie Stephan Kammer zeigt, auf seine Zettelkästen, in denen Formulierungen gespeichert waren, die ihm über die Schwelle des Anfangs hinweghalfen. Das Alterswerk Friedrich Dürrenmatts kennt – wie Peter Rusterholz und Martin Stingelin in zwei unterschiedlichen Abhandlungen darlegen – keine emphatischen Neuanfänge mehr, sondern nur noch bewusste Reprisen bereits bearbeiteter Stoffe. Und Friedrich Glauser, der „späte Anfänger“, wie Hubert Thüring ihn nennt, gab sich professioneller, als er war: Er arbeitete mit der Schreibmaschine, um sich und seinen Verlegern vorzugaukeln, dass seine Textproduktion quasi industriellen Standards gehorche. Zugleich aber führte er Notizbücher, die zeigen, dass seine Schreibvorgänge keineswegs so reibungslos verliefen, wie er das wohl gerne gehabt hätte. In einem dieser Hefte steht ein Stossseufzer, den vermutlich viele Schriftsteller unterschreiben könnten: „Aufpassen!!!! Beim Schreiben / nicht immer/ ausrutschen!!!!“ (Als eines der vielen Faksimiles, die in den Band aufgenommen wurden, abgebildet auf S. 170.) Dass man diesem „Ausrutschen“ durch bewusste Konstruktion entgehen kann, zeigt Rudolf Probst am Beispiel des Schweizer Schriftstellers Hans Boesch (1926 bis 2003), der sich bei seinen Romanprojekten von Anfang an nicht nur auf spontan keimende Einfälle verließ, sondern auch auf konstruktive Vorgaben: Mein Roman soll so und so viel Kapitel in dieser und jener Länge haben und dergleichen.
Über derartige Beobachtungen zur Schreibpraxis hinaus taucht aber in fast allen Aufsätzen des Buches die Frage auf: Wann genau beginnt der Schreibprozess? Bevor Paul Celan zum Beispiel sein Gedicht „Entwurf für eine Landschaft“ schrieb, exzerpierte er, wie von Sandro Zanetti zu erfahren ist, aus einer populärwissenschaftlichen Einführung in die Geologie eine Liste mit Fachtermini. Die meisten Ausdrücke, die auf dieser Liste erscheinen, kehren später im genannten Gedicht wieder. Ein weiteres schönes Beispiel für einen solchen Werk-Keim gibt Thomas Feitknecht, der rekonstruiert, dass die ersten Ansätze zu Hermann Hesses berühmter Erzählung „Demian“ in Traumprotokollen zu finden sind, die der Autor im Verlauf einer psychotherapeutischen Behandlung anlegte. Selbst den Namen „Demian“ hat Hesse geträumt.
Einem traditionellen Verständnis vom literarischen Werk würden Listen oder Traumtagebücher nur als „Vorarbeiten“ zum Eigentlichen erscheinen. Jene Forscherinnen und Forscher, die sich für die „Genealogie“ (also das Entstehen) eines Textes nachdrücklicher interessieren als für das vollendete Werk, neigen hingegen dazu, alles vorhandene Material als Bestandteil des fertigen Textes anzusehen. In seiner Analyse der besonders verschlungenen Schreibwege Robert Walsers betont Wolfram Groddeck ausdrücklich, dass der „avant-texte“ mindestens so interessant sei wie eine abgeschlossene Arbeit. („avant-texte“, das ist ein Fachausdruck der in Frankreich entwickelten „Critique Génétique“, der die „Genealogen des Schreibens“ methodisch verpflichtet sind.) Und weil das so ist, interessieren sie sich naturgemäß auch für all jene, zuweilen höchst intensiven Schreibtätigkeiten, die zwar eine Fülle beschriebenen Papiers hervorbringen, aber kein Werk, das sich als „vollendet“ beschreiben ließe. Robert Walser, dessen Praktiken des häufigen Umschreibens nicht nur von Groddeck, sondern auch von Barbara von Reibnitz untersucht werden, sowie der bereits erwähnte Kafka bieten hier die kanonisierten Beispiele. Michael Schläfli stellt aber auch ein potentiell unabschließbares Schreibprojekt der Gegenwart vor: das Konvolut „Im Freigehege“, an dem der Schweizer Schriftsteller Christoph Geiser ohne allzu entschiedene Vollendungsabsicht seit Jahrzehnten arbeitet. Angesichts solcher Projekte ist der Vorgang des Schreibens jedenfalls wichtiger zu nehmen als der geschriebene Text, oder wie es Hubert Thüring in der Einleitung zu dem Band ausdrückt: „Die These von einem in der modernen Literatur verschärften Spannungsverhältnis zwischen Text und Schreiben geht von der einfachen Beobachtung aus, daß zwar, wenn ein Text entstehen soll, geschrieben werden muß, daß aber nicht immer, wenn geschrieben wird, auch ein Text im Sinn eines fertigen und ganzen Produktes entsteht.“ (S.9)
Die Resultate solch zielloser Schreibunternehmungen sind in der Regel zwar nicht in Buchform publizierbar, wohl aber als Manuskript-Konvolute archivierbar. Und diese Beobachtung führt nun zu einem etwas nachdenklichen Fazit: Die Verfasser und Verfasserinnen der genannten Aufsätze sind allesamt entweder mit Editionsprojekten oder mit Archivtätigkeiten beschäftigt. Und dieser berufliche Umgang mit unpublizierten Schriften prägt ihren Blick auf das Schreiben und die Literatur. Sie interessieren sich vor allem für den Schreibprozess, der in manchen Fällen ein Werk herbeiführt, in anderen Fällen aber auch nicht. Beides ist den Genealogen gleichermaßen wichtig, und detailverliebt versenken sie sich in all jene mehr oder weniger chaotischen Verfassungen, die ein Text durchlaufen kann. In einem „dossier génétique“ stellen sie all die überlieferten Fassungen, Versionen und Varianten zusammen. Wie man ein solches Dossier anlegt, führt Bernhild Boie am Beispiel von Gedichten Georg Heyms, Günter Eichs und Peter Rühmkorfs vor, während Corinna Jäger-Trees die Materialien sichtet, die Otto F. Walters Romane „Der Stumme“ und „Zeit des Fasans“ begleiten.
Und während man alle diese tadellos sorgfältigen philologischen Studien liest, kann man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass solch ein „Dossier“ den „Genealogen des Schreibens“ wichtiger ist als jedes fertige Werk. Eben dies aber kann einem überzeugten Leser nicht genügen. Da ihm die Bibliothek wertvoller ist als das Archiv, will er nicht nur wissen, welchen – mehr oder weniger obskuren – Ursprüngen die Bücher entstammen; ihn interessiert auch, welche Wirkungen und Folgen sie bei der Leserschaft hatten (und weiterhin haben könnten). Der „Demian“ zum Beispiel ist eben nicht nur der Ausdruck einer psychischen Krise seines Autors, sondern auch ein Schlüsselwerk des frühen 20. Jahrhunderts, das als Zeugnis einer weit verbreiteten elitär-sinnsucherischen Geisteshaltung der deutschen Jugend verstanden werden kann. Wer aber diese öffentlichen Aspekte der Literatur begreifen möchte, sollte sich mit gedruckten und gelesenen Büchern befassen und nicht mit allen möglichen Zetteln aus diversen Nach- oder Vorlässen.
Allerdings ist die Begeisterung fürs Unpublizierte nicht nur bei Philologen zu bemerken. Die Autoren selbst sind ja in der Regel nicht anders konditioniert. Nur zu gerne liefern sie das Material, das zur Basis textgenetischer Dossiers taugt. In ihrem Aufsatz über Elias Canettis Aufzeichnungspraktiken berichtet Irmgard Wirtz, dass Canetti lebenslang Tagebücher führte, in die er alles hineinschrieb, was ihn beschäftigte. Für Leser waren diese Notizen angeblich nie bestimmt. Lediglich die lakonischen, aphoristisch verknappten Aufzeichnungsbände, die Canetti aus der Masse seines Geschriebenen destillierte, sollten dem Publikum zugänglich werden. Was aber hat der Autor mit den verworfenen Schriften getan? Hat er sie etwa vernichtet? Oh nein: Rund 13.000 unpublizierte Seiten liegen in der Zentralbibliothek Zürich und werden gewiss noch manche genealogische Studie provozieren. Und dagegen ist ja auch nichts Stichhaltiges einzuwenden. Allenfalls wünscht man sich angesichts der abundanten Nachlassbewirtschaftung unserer Tage wenigstens ein paar Autoren, die jenem „Chopin“ ähneln, von dem es im gleichnamigen Gedicht Gottfried Benns zitierfähig heißt:
„Dann verbrennt er seine Skizzen
Und Manuskripte,
nur keine Restbestände, Fragmente, Notizen,
diese verräterischen Einblicke –
sagte zum Schluß:
‚meine Versuche sind nach Maßgabe dessen vollendet,
was mir zu erreichen möglich war‘.“