Nach der Chronologie der drei Architekturen, nämlich der Phase 1 (März 2001 bis Mai 2002) in einer ehemaligen Lederfabrik im fünften Bezirk, Phase 2 (August bis November 2002) in einem Gewerberohbau am Lerchenfeldergürtel und Phase 3 (Januar bis Februar 2003) im hochkulturellen Museumsquartier, ist der Band auch formal organisiert.
Die inhaltliche Ebene wird bestimmt von Protokollen der SpielerInnen, Briefen, Rezensionen von ZuseherInnen, Probenerinnerungen von Claudia Bosse, Schwarzweißfotos über zwei Seiten oder wie auf Kontaktbögen aneinandergestoppelt. 447 Seiten Großformat versammeln damit theatrale Erkenntnisse zur Frage, inwieweit über das körperlich Erfahrbare das Unformulierbare Thema wird.
Sade/Wittgenstein-Zitate waren Ausgangsbasis und zugleich physisch zu erforschende Ziele. „die texte wurden nicht bebildert, sondern waren assoziative, methodische hintergründe der körperforschung. die choreographien sind aus der perspektive dieser differenten sprachlichen konstruktionen entwickelt worden, untersucht wurde, wie diese texte auf den unterschiedlichen physiognomien und anatomien spuren hinterlassen oder hinter den muskeln und sozialen gravuren des jeweiligen körpers verschwinden.“
Über Sades Die Philosophie im Boudoir und Die 120 Tage von Sodom arbeitete sich die Gruppe vor zu Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus und Über Gewissheit – wortwörtliche Zitate werden mit der individuellen Wahrnehmung montiert, in Spalten querformatig angeordnet, bis zur Halsverkrümmung des/der LeserIn oder zur veränderten Buch-Haltung. Die „KonstrukteurInnen“ des Bandes machen auch vor der Erforschung der körperlichen Funktionsmechanismen bei der Lektüre dieser unglaublich dichten Bestandsaufnahme einer für alle Beteiligten ungewöhnlichen Theatererfahrung nicht halt. Über die Sprache zum Gedanken vordringen, über Körper zum Fühlen, Denken – über die Einsamkeit in die Gemeinschaft und vice versa.
8 Monate wurde einzeln probiert, mit der Vereinbarung, dass sich die SpielerInnen untereinander nicht absprechen. Die Reaktionen, die Bezugnahme, der Versuch unter neuen Bedingungen zu kommunizieren, wurden dann in disziplinierter Form bis an die Grenzen des Verkraftbaren ausbalanciert. In Räumen außerhalb eines „Kunstkontextes“, zu Zeiten außerhalb der Geschäftigkeit arbeitete die Gruppe, die aus circa 20 Personen bestand. Körpertraining, asiatische Kampfsport- und Meditationstechniken wie Tai Chi und Wu Shu wurden zu Forschungs-Instrumenten.
Die sogenannten „Veröffentlichungen“ der Ergebnisse, die Aufführungen, wie man landläufig sagen würde, fanden von 22.00 bis 7.00 Uhr morgens statt, auch die RezipientInnen waren Teil der Untersuchung, ein ausgesuchter Kreis, von PensionistInnen über Studierende der formalen Logik. Nach diesem Prinzip der Grenzerfahrung und des Voyeurismus verhält sich auch der Band, er strapaziert den/die LeserIn über alles Gewöhnliche und macht ihn zugleich frei zwischen gleichwertigen Texten. Nur die Phasen ändern sich, die Texte aber folgen keiner inhaltlichen Bewertung, an jeder Stelle kann zwischengelesen werden.
Nach dem Stationentheater, den Parallelhandlungen des „theatercombinat“ folgt nun ein Stationen-Buch, das sich aus scheinbar Fragmentarischem, aus Unfertigem zusammensetzt. Und freilich klingen diese monatelangen Studien der Selbst- und Wittgensteinerfahrung auch emotional gefährlich. Gerade diese marginalisierte Theaterarbeit schafft ambivalentes, spannendes Rezeptionsverhalten. In den verschlungenen Pfaden der sehr persönlichen Berichte folgt man der Selbsterfahrung, ohne eindeutige Antworten zu erhalten. Und soll auch so sein. Wie sich der Band gattungsspezifisch nicht einordnen lässt, ist auch keine LeserInnenkategorie zu benennen. Ein interessantes Buch, dessen Zielpublikum sich auf ein anregendes Leseexperiment einlassen darf.