Wir folgen dem Autor durch seine Welt. Begegnen Onkeln und Tanten, begleiten Dieter Sperl zurück an Schauplätze seiner Kindheit, seiner Schulzeit. Er führt uns nach Rom, in Gasthäuser, auf Türme, in Höhlen oder zum Beispiel ganz konkret: auf den Schwedenplatz. Reale Personen tauchen aus dem Hier und Jetzt auf. Etwa Schriftstellerkollegen wie Anselm Glück, Christian Steinbacher (in dessen Verlag BLATTWERK Sperl den Prosaband draußen im kopf veröffentlichte), Thomas Raab, Alfred Kolleritsch. Aber auch die Eltern und manch verstorbene Verwandte suchen ihn heim.
Dieter Sperl hat seine Traumnotizen, wie es im Verlagstext heißt, im Halbschlaf und meistens auch noch nächtens geschrieben. Er hat seine Schlafstörungen genützt und seinem Unterbewusstsein quasi mit Stift und Zettel aufgelauert. Ich kenne das aus eigener Praxis. Mein Problem war jedoch immer meine Handschrift: ich konnte sie am nächsten Morgen nur noch schwer bis gar nicht mehr entziffern. So kommt mir vor, dass Sperl manche seiner Traumnotizen erst im Nachhinein durch funktionale Erzählelemente „literarisiert“ hat: „Im Traum hatte ich diesen Text jetzt geschrieben, der natürlich nicht dieser Text ist“, ist etwa auf Seite 182 zu lesen. Oder elf Seiten weiter dieser Eintrag: „Es waren nur Worte (Träume), aber in ihrer Freizeit waren es Lebewesen.“ Das ist für mich so etwas wie der Schlüsselsatz in diesem Buch. Der Autor entlässt seine Träume aus dem Labyrinth seines Unterbewusstseins und schickt sie auf die Spielwiese der Literatur, indem er sie mit unmittelbaren Realien unterfüttert. Da bekommen Figuren aus dem Traum, Personen, die dem Autor nicht persönlich bekannt sind, Namen zugeschrieben. Woher weiß sie der Träumer? Hier ein Beispiel (Seite 152): „Eine Frau namens Ilse geht mit einem Kind namens Peter durch eine Tür, die zwei Stock unter dem Parterre einer Villa liegt. Auf die Frage, ob ich das Spielzeug für das Kind hineinbringen soll, meint sie, man müsse es dann zwei Stockwerke hochbringen, ich solle es so lassen.“ Ein anderes Mal werden wir – wie offenbar der Träumer selbst – über die Akteure im Unklaren gelassen, wenn ein Eintrag etwa kurz und bündig lautet: „Wir kauften an einer Tankstelle drei Dosen Bier.“ Wer ist dieses WIR?
Es macht den Reiz dieser Lektüre aus, dass wir als Leser:innen mit dem Autor mitträumen. Und wir mit Dieter Sperl nicht sicher sein können, auf welchem Boden wir stehen; wer dieses Ich („Jemand mit dem Namen Sperl spielt Schubert-Lieder.“ / Seite 88) tatsächlich ist.
Auffallend ist, dass schwarzweiß geträumt wird. Farben kommen nur andeutungsweise durch die Nennung etwa von Fußballertrikots oder Zitronen vor. Auch Voyeure kommen eher zu kurz. Ich habe nur zweieinhalb erotische Szenen gefunden. Und die sind eher harmlos. Kein Wunder, dass Freud und seine Traumanalyse auch mit keinem Wort erwähnt wird. Sperl träumt seine eigenen Träume. Etwa, dass der Wiener Sportclub in die zweite Division aufsteigt („Wie verändert man eine Geschichte“ / Seite 42). Träume, als wären sie filmische Short Cuts. Eine Assoziation, die sich aufdrängt, wenn man auf Seite 91 liest: „Auf dem Küchenboden lagen die Bücher Random Walker und absichtslos.“ Der Filmliebhaber und -kenner Dieter Sperl hat zweifelsohne seinen Altman verinnerlicht. Auch auf die im Anhang gestellte Frage „Was soll ich machen, wenn ich aufhöre zu träumen?“ hätte ich eine Antwort: BITTE WEITERSCHREIBEN! Bitte noch viele weitere Freizeit-Lebewesen. Und ja, ich fühl mich angesprochen. Ich bin so einer wie Sperl.