#Roman

Am Morgen des zwölften Tages

Vladimir Vertlib

// Rezension von Helmut Sturm

Auch im siebten Roman des heute in Salzburg lebenden, 1966 in Leningrad geborenen jüdischen Schriftstellers Vladimir Vertlib bewegen wir uns wieder in der fiktiven bayrischen Stadt Gigricht. Die 39jährige Ich-Erzählerin ist Buchhändlerin in der Buchhandlung Papanek, hat eine 19jährige Tochter, Petra, und beobachtet in der Früh im Autobus zur Arbeit eine Frau, deren Gesicht, wenn sie einschläft, ein „Selbstverständnis mit den Gegebenheiten der Welt“ ausdrückt sowie „Gelassenheit und eine verhaltene Strenge“ widerspiegelt.
Im selben Bus denkt Astrid daran, „irgendwann, schon bald“ alles aufzuschreiben, was ihr „in den letzten zwanzig Jahren widerfahren“ ist. Sie überlegt die Aufzeichnungen vielleicht an diese Frau zu schicken. Tatsächlich haben wir sie nun in Händen und sie sind geeignet, unser „Selbstverständnis mit den Gegebenheiten der Welt“ ebenso zu stören wie unsere schlaftrunkene Gelassenheit.

Thema von Astrids Schreiben ist das Verhältnis der Deutschen zur muslimischen Welt, das zum einen dargestellt wird am Beispiel ihrer Erfahrungen mit arabischen Männern, zum anderen in einem Manuskript ihres Großvaters Sebastian Heisenberg. Es sind also zwei personale Erzähler, die ihre Geschichte vorstellen. Beide Kinder ihrer Zeit. Astrid erzählt ohne Selbstmitleid, aber mit ironischer Distanz und nicht wenig Witz ihre Familiengeschichte.

Nach dem Abitur will die dickliche Astrid nach Marokko reisen, trifft in Stuttgart Khaled. „Am Morgen des zwölften Tages verschwand er“. Astrid bleibt schwanger zurück.
Der Großvater, der nach einer erfolgreichen Karriere in Nachkriegsdeutschland erst in den letzten Jahren seiner Lehrtätigkeit wegen seiner Verbindungen zur NSDAP kritisiert wird, hat jenes Manuskript hinterlassen, in dem er die Erinnerungen an die missglückte deutsche Mission im Jahr 1941 in den Irak festhält, deren Ziel es war, einen irakischen Aufstand gegen die Engländer zu provozieren. Er wurde den deutschen Militärs und Diplomaten zugeteilt, da sein 1939 publiziertes Werk „Mohammeds Kinder im Aufbruch. Eine faschistische Perspektive“ dem damaligen Zeitgeist sehr entgegen kam und jemand gesucht wurde, „der fähig ist, die Instinkte und Sehnsüchte des Arabers in eine Ideologie zu verwandeln, die unserer Sache dient“.
Er gibt sich als Berichterstatter den Anschein von Souveränität, versucht sich von Mitschuld an grausamer Unmenschlichkeit frei zu machen und gewährt einen Einblick in ein absurdes Kapitel der Geschichte. Der Hinweis darauf, dass der arabische Antisemitismus wesentlich von europäischen, besonders deutschen Wurzeln genährt wurde (und wird?), ist ein wichtiges Verdienst von Vladimir Vertlibs Roman. Das Bewusstsein dafür, dass die Probleme der Kohabitation von Juden und Arabern (auch) europäische Wurzeln haben, ist ja nicht so weit verbreitet.
Im Nachwort verweist der Autor darauf, dass es sich bei den Hauptfiguren in Sebastian Heisenbergs Manuskript um historische Figuren handelt und belegt die Authentizität der Schilderungen mit einer Anzahl von Literaturhinweisen. Die Subjektivität der Figurenrede Sebastian Heisenbergs macht allerdings deutlich, dass (pseudo-)wissenschaftliche Objektivität und der Anspruch des Besserwissens, wie sie in seinem Manuskript erkennbar werden, vor der Komplexität der Problematik kläglich versagen.

Verwickelt ist auch Astrids Leben. Da ist Adel, Wirt von „Die vierzig Köstlichkeiten des Ali Baba“, der sich einen Traum erfüllen und mit Astrid schlafen möchte. Die Beziehung entwickelt sich freilich anders als geplant, Adel schlägt zu und Astrid schließt sich der Selbsthilfegruppe von Frauen an, die Opfer muslimischer Männer geworden sind. Astrid sinnt auf Rache.
Im „Weißen Halbmond“ erzählt auch Monika ihre Geschichte, von der Begegnung eines arabisch-deutschen und eines jüdisch deutschen Paares, bei der die Behauptung „Es wäre übrigens interessant zu erfahren, warum die Juden zweitausend Jahre lang verfolgt wurden. Das ist sicher kein Zufall.“ gemacht wird. Die Liebenden trennen sich zuletzt heillos zerstritten. Der Rat, den Monika in der Gruppe bekommt, ist eine Frage: „Musst du denn dein Leben unbedingt auf die Reihe kriegen?“
Es ist symptomatisch für die menschlichen und politischen Verhältnisse, die Vertlib schildert, dass diese nicht einfach „auf die Reihe“ gebracht werden können. Vielleicht ist schon viel erreicht, wenn es z. B. Corinna aus dem „Weißen Halbmond“ gelingt, „die Reihen offenzuhalten“.

Wie sich Astrids Rache entwickelt, hat etwas von einer absurden Tragikomödie, bei der dem Autor die Phantasie durchgeht. Bei nochmaligem Überlegen kann man sich vielleicht eingestehen, dass unser Verhältnis zur muslimischen Welt sowie die Verhältnisse im Nahen Osten wohl nur so annähernd realistisch beschrieben werden können. Der alltägliche Wahnsinn wird durch Vertlibs Sinn für Situationskomik und seinen zumeist guten Humor erträglich, auch wenn einem das Lachen im Hals steckenbleiben möchte.

Vladimir Vertlib Am Morgen des zwölften Tages
Roman.
Wien: Deuticke, 2009.
560 S.; geb.
ISBN 978-3-552-06097-5.

Rezension vom 13.11.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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