#Lyrik

Am besten lebe ich ausgedacht

Sabine Gruber

// Rezension von Marcus Neuert

Sabine Gruber, in Meran geboren und nach einem Studium der Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft und Jahren der Unterrichtstätigkeit an der Universität Venedig heute als freischaffende Schriftstellerin in Wien tätig, hat für die ganze Bandbreite ihres literarischen Schaffens, das Romane, Lyrikbände, Erzählungen, Theaterstücke und Essays umfasst, mehrere bedeutende Auszeichnungen erhalten, etwa den Österreichischen Kunstpreis für Literatur 2016 oder den Preis der Stadt Wien für Literatur 2019. Ein Stipendium führte sie 2020/2021 als Poet in Residence an die Universität Duisburg-Ruhr, wenn auch pandemiebedingt nur in digitaler Form, gewissermaßen als „Poet in Zoom“, wie eine Studierende anmerkte – für die neuen Texte, die schwerpunktmäßig in dieser Zeit enstanden sein könnten, vielleicht insofern von Vorteil, als sie sich statt in Ruhrort und Marxloh mehrheitlich in der österreichischen Hauptstadt oder jenseits des Alpenkamms verorten. Andernfalls wäre zu befürchten gewesen, dass der ohnehin schon melancholische Grundton der Gedichtsammlung „Am besten lebe ich ausgedacht“ womöglich in auswegslose Tristesse gemündet hätte.

Vierundvierzig Journalgedichte hat Sabine Gruber in ihrer neuesten Publikation vereint, schön und schlicht mit je zwanzig Zeilen, achthundertachtzig aufmerksame Verse poetischen Sehens und Erinnerns. Dieses bereits äußerlich wahrnehmbare Formbewusstsein wird gestützt von der noblen Aufmachung des mit festem Karton, schwerem Papier und einer Fadenheftung ausgestatteten Werks. Aus dem Vierklang verschiedener Orte, dem Wiederaufrufen vergangener Liebe, dem klaren Blick für Lebensverhältnisse und der großen Trösterin Natur erschafft die Autorin ein Kammerkonzert moderner Lyrik, die von zeitloser Verehrung des Ästhetischen zeugt.

Ihr Jahreslauf beginnt im März, in der Wiener Leopoldstadt, und führt in den folgenden Monaten über das Latium, Venedig, Südtirol, Apulien, Niederösterreich, Ravenna, Duino, Düsseldorf, Berlin und Sizilien im darauffolgenden Februar wieder zurück nach Wien. Alles Monatsgedichte, die einen fragilen und doch selbstbewussten Lebensbereich abzustecken scheinen: das eigentliche „Journal“ schließt sich dann erst ab Seite 15 mit „Letzter Oktober“ an, der letzte mag der einunddreißigste sein, jedoch auch ein Erinnern („ich war ein stolperndes Kind, das vor / Staunen den Boden vergaß. Das in allem / Alles las“) und eine Bestandsaufnahme, eine Ahnung, es könnte der letzte Oktober sein: „Noch einmal bleibt / Vom Sehnen mehr als nur die Flucht, / Vom Traum der lose Saum.“

Die wenigen Wörter in diesen Texten, die die unerbittliche Jetztzeit markieren, sind keine harten Schnitte im Gedicht, sie passen sich ein in Rhythmus und Reim, der sich im Binnen der Verse versteckt: „ein Fakefenster“, „Der Quarantäneflieder“, wird gar luftiges Wortspiel: „Im Mai spiel ich Tinderadei, wische die Liebe / Herbei“. Analog eingebettet sind selbst die Schrecknisse Flüchtender, die die Dichterin wie in einem Negativ aufscheinen lässt zwischen Grenzposten und Scheinwerfer: „Die weiteren / Mysterien: mich ausweisen zu können, mit / Heller Haut und strohfarbenem Haar.“ Doch nie entsteht dabei ein Missverhältnis aus ästhetisierendem Anspruch und bedrückender Realität, die in Worte gekleidet werden will. Gruber wählt ihren Ausdruck stets fernab gefälliger Gefühligkeit wie auch markig-moralisierender Bekenntnisse: ein Ausdruck eher von Behutsamkeit als von Geschmeidigkeit um der Geschmeidigkeit willen.

Dieses lyrische Ich ist offensichtlich positioniert in der zweiten Hälfte des menschlichen Lebens, ist gezeichnet von Erfahrungen und Verlusten: „Meine Lebensmänner / Sind alle tot, der Körper ist längst / Nicht mehr im Lot.“ Das Alleinsein wird als umfassend empfunden, die zeitliche Begrenzung des eigenen Daseins und der verlorenen Beziehung ist stets präsent und wird auch im Prozess des Schreibens und Verwerfens entsprechend reflektiert: „Du aber / Bist im Zerknüllten, im Knitterland / Tot.“

In diesen Gedichten mischen sich Landschaft und Jahreszeit, Ort und Stimmung nicht einfach zu einer Kulisse, vor der das Ich seine Befindlichkeiten zelebriert – es ist im Gegenteil stets verwoben mit den es umgebenden Bedingungen, scheint in Verzweiflung und neuer Hoffnung entweder gedrückt oder getragen von ihnen. Es leidet an einer Zerrissenheit zwischen den Extremen, die sich mitunter auch formal an den Besonderheiten der Zeilenbrüche ablesen lässt: „gift / Grün, gefleckt von den Brand / Löchern der Zigarettenglut“. Doch es leidet bei weitem nicht nur, dieses Ich, es ist auch immer wieder kraftvoll, ja lustvoll, wirft auf einmal die Reflexion ab und genießt: „Dieser Tage fällt das Lesen schwer, Schlaf / Verwandelt sich in Beischlaf, in glieder / Lösende Sehnsucht.“

Das lyrische Ich schöpft aus den Phänomenen und der Fülle des Daseins: „Mixturen der Zeit, überlappende / Bilder – mein Stoff.“ Immer ist im Erleben eine melancholisch durchwobene künstlerische Manifestation mitgedacht und von den Lesenden mitzudenken: diese Verse sind gleichermaßen Poesie gewordenes Leben wie lebendig gewordene Poesie, Dasein und Schaffen aus der gleichen Quelle. Und das Ergebnis ist klar, schön und schrecklich: „Die Schwanenfeder im Wasser schreibt / Schon den Tag herbei, treibt der Sonne / Zu, die nur darauf wartet, alles zu zeigen, / Was ist: Fische, die springend fliehen, / Paare, die sich singend belügen, / Menschen, die sich bekriegen.“

Sabine Gruber Am besten lebe ich ausgedacht
Journalgedichte.
Innsbruck, Wien: Haymon, 2022.
48 S.; geb.
ISBN 978-3-7099-8158-0.

Rezension vom 28.03.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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