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Als hätten sie Land betreten

Claudia Sammer

// Rezension von Veronika Hofeneder

„Im unmittelbaren Spüren war die innere Ordnung intakt, sie hatten festen Boden unter den Füßen, es war, als hätten sie Land betreten.“ (17) Mit diesen Worten beschreibt Claudia Sammer die besondere Beziehung von Lotti und Veza. Dabei ist die Freundschaft der beiden charakterlich so grundverschiedenen Mädchen, die sich in den frühen 1930er-Jahren in der Schule kennenlernen, keine „auf den ersten Blick“ (14); so lässt sich die lebhafte Lotti von Vezas Fleiß zunächst zu Streichen gegen diese ermutigen und steckt ihr beispielsweise Ameisen und Regenwürmer in die Schultasche. Sehr bald zeigt sich jedoch die tiefe Verbundenheit der beiden, die jenseits aller Worte an Platons Urvorstellung der Liebe in Gestalt der Kugelmenschen gemahnt und erst im Zusammensein mit der/dem anderen die absolute Erfüllung findet.

Diese Verbindung wird jedoch durch die Zeitläufte auf eine harte Probe gestellt: Veza muss bald eine jüdische Schule besuchen, konvertiert dann zum Katholizismus und tritt in den Karmeliterorden ein; abseits vom Versuch, sich vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu schützen, sind ihr Glaube und religiöse Praxis Stütze und echter Lebensinhalt. Lotti ist wegen der Entscheidung der Freundin verzweifelt, sie verweigert die Einladung zur Aufnahme Vezas ins Noviziat. Ihre Trauer über den Verlust der Freundin verarbeitet sie, indem sie diese zu zeichnen beginnt. Außerdem entspinnt sich zwischen den beiden ein sehr inniger Briefwechsel, der durch Vezas Deportation und Ermordung in einem Konzentrationslager ein jähes Ende findet. Lottis Leben hingegen geht weiter, sie wird als Wehrmachtshelferin einberufen, heiratet einen Mann, den sie zwar schätzt, aber nicht liebt, und bekommt zwei Kinder, zu denen sie zeitlebens ein schwieriges Verhältnis hat. Das Ehe- und Familienleben spult sie routiniert ab, bleibt aber immer auf Distanz dazu und ist nie mit dem Herzen dabei: „Der Wunsch nach einem Gegenüber, das gleichsam Fortsetzung des eigenen Ich war, war nicht erloschen, aber nach und nach verlor er seine Dringlichkeit.“ (72) Ihre Leidenschaft gilt immer noch dem Malen, ihre Zeichnungen zeigt sie jedoch niemandem, diese werden erst nach ihrem Tod in ihrem Nachlass gefunden und von ihrer kunsthistorisch versierten Enkelin ausgestellt.

Neben der Geschichte der beiden Freundinnen erzählt Claudia Sammer noch eine Reihe weiterer Frauenleben und entfaltet damit ein Panorama weiblicher Lebensentwürfe des vorigen Jahrhunderts: Da ist zunächst Lottis Tante Alma, die ein unabhängiges, emanzipiertes Leben ohne Mann, dafür mit Auto führt, das für sie den Inbegriff von Freiheit darstellt. Nach ihr benennt Lottis Tochter Luna, die sich als Alleinerzieherin durchschlagen muss, ihre eigene Tochter, die erkennt, dass sie ihre Leidenschaft für Kunst nicht in der schwierigen Beziehung mit einem Musiker, sondern durch die entsprechende Berufswahl auch autonom ausleben kann. Und im Karmel lernt man noch Vezas dortige Vertraute, die Klosterschwester Dorothea kennen, die ihre Lebens- und Glaubensentscheidung immer wieder in Zweifel zieht. Männerfiguren treten im Roman kaum auf, dominieren aber auf weite Strecken Leben und Persönlichkeit der Frauen, die unterschiedliche Rollenvorstellungen zu erfüllen suchen bzw. glauben, diesen entsprechen zu müssen. Die Befreiung aus diesen Denk- und Verhaltensmustern gelingt nur teilweise, der „Room of One’s Own“ muss erst mühevoll erobert werden. Sammer gelingt es allerdings kraft ihrer klaren, unaufgeregten Sprache, diesen Frauen eindringliche Stimmen zu geben und ihre Ängste, Nöte, Wünsche und Träume plastisch und nachvollziehbar zu machen. Freiheitsbedürfnisse, Gefühlsstürme und Glaubenszweifel beschreibt sie so kunstvoll wie empathisch, so schonungslos wie intensiv. Neben einer berührenden Erzählung über eine ganz besondere Freundschaft ist Sammer mit Als hätten sie Land betreten auch ein spannender Roman über die Vielschichtigkeit weiblicher Lebenswelten gelungen.

Als hätten sie Land betreten.
Roman.
Wien: Braumüller Verlag, 2020.
176 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99200-285-6.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 06.10.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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