#Prosa
#Debüt

Als die Sonne versank

Simon Chkheidze

// Rezension von Evelyn Bubich

Fantastische Figuren im Kaleidoskop

Was haben eine taubstumme Primaballerina mit Faszination für die Geräusche des Regens, ein Trompetenspieler mit Hang zur (stillen) Einsamkeit und ein gebildeter, weltfremder Mitarbeiter eines Möbelgeschäfts mit „eigenwillig langem Haar“ (S. 18) gemeinsam? In seinem Kurzgeschichtenband Als die Sonne versank verknüpft Simon Chkheidze zwölf Miniaturen zu einem kafkaesken Reigen, der Leser:innen in Welten zwischen sonderbarer Wirklichkeit und realer Sonderbarkeit eintauchen lässt.

„Brauchen Instrumente wirklich Menschen?“ (S. 7), fragt sich Alfred Muskat, ein leidenschaftlicher Trompetenspieler und wasserscheuer Mensch, der Wasser mag, besonders große Gewässer. Als passionierter Einzelgänger geht er seit dem Tod seiner Großmutter weiblichen Wesen aus dem Weg, nur die wöchentliche Begegnung mit der Zeitungsfrau scheint er zu genießen: „Schüchtern. Süß. Wie eine Nelke.“ (S. 11) – Roselin Weide ist Postangestellte und eine Frau mit Qualitäten, hingebungsvoll kümmert sie sich um den kranken Vater, mit ihrer „weiblichen Zurückhaltung“ (S. 11) verzaubert sie ihre Umgebung, ihre Schritte muten „geschmeidig weiblich“ (S. 12) an.

Chkheidzes Spiel mit dem (überholten) Klischee vollzieht sich in schwindelerregenden Höhen; es ist die Übertreibung, die Überspitzung, mit der er seine Figuren zeichnet und sie in ein Setting hineinmontiert, sie hineinsetzt, als wären sie Spielpuppen, als handelte es sich bei den literarischen Schauplätzen aus Chkheidzes Feder um Dioramen. Angesiedelt sind die fragmentarisch-porträtartigen Kurzgeschichten zwischen märchenhafter Schilderung, fassbarer Begebenheit und wunderlichem Vorkommnis. Die reigenhaft aneinandergereihten Prosa-Miniaturen, die auch lyrische Passagen aufweisen – Protagonistin Franziska Tremolie ist gar Dichterin –, nehmen hie und da Anleihen beim magischen Realismus oder bei den absurd-fantastischen Erzählungen russischer Meister.

So verschafft sich etwa die Nase (einer Dichterin) hier nicht wie bei Gogol ein Eigenleben, sie dient jedoch als Behausung für Karantina Prosciutto, Bewohnerin einer (Dichterinnen-)Nase. Grundsätzlich wird den äußeren Eigenschaften von Nasen einiges an Bedeutung beigemessen, so beschreibt der Erzähler sie zum Beispiel als „auffällig lang“ (S. 8), sie besitzen „die Form eines Damenstiefels“ (S. 24) oder ein vereinsamter Herr verfügt über eine – wie kann es auch anders sein – „zierliche Frauennase“ (S. 36). Auch die fantastischen Welten von Jean-Pierre Jeunet und Wes Anderson (vor allem einige seiner Verfilmungen von Erzählungen Roald Dahls) dienten dem Autor vielleicht als Inspirationsquellen.

Als würden die Figuren an einem Ort, der am ehesten an ein Panoptikum erinnert, umeinander tanzen, tauchen sie – mitsamt ihren Wunderlichkeiten und Exzentrizitäten – mindestens zweimal auf; ein erster Verweis auf sie findet sich schon in jener (Kurz-)Geschichte, die ihrer eigenen voraus geht. Durch dieses Miteinanderverwobensein entsteht für die Leserin/den Leser der Blick durch ein Geschichtenkaleidoskop, das durch die kontinuierliche Weiter-Bewegung, das Weiter-Lesen, immer neue, überraschende Formen und Farben annimmt. Musizierender Eigenbrötler, schüchterne Nelkenfrau, dem Weltenlärm entfliehender Outdoor-Schläfer, gehörlose Tänzerin oder leutescheuer Karikaturist – sie alle sind Sonderlinge, Nonkonformist:innen, Individualist:innen auf der Suche nach einem Platz in einem fiktiv-realen oder einem ganz und gar von Dada ausgefüllten Leben: die Suche nach einer Heimat, eben „als die Sonne versank“.

Gewisse Ungenauigkeiten und Eigenwilligkeiten bei der Beschreibung von Sachverhalten oder der Schilderung von bestimmten Umständen lassen darauf schließen, dass der Autor durch unzuverlässiges Erzählen Absurditäten und teils kafkaeske Darstellungen verstärken möchte. Da kann eigenwillig langes Haar zu schulterlangem und dann wieder zu langem werden; es können Fische, die für den späteren Verzehr mit den Händen aus einem Gebirgsbach geschöpft werden, „stinkig“ sein oder die Geräusche des Waldes des Nachts irrtümlicherweise spurlos verschwinden – wie jemand, der gern Dostojewski liest, aus seinem („kindisch“ (S. 18) stehenden) Zelt.

Die Seltsamkeit haust in diesen unkonventionellen, die Neugier weckenden Texten, die von jähem Verlust, plötzlichem Verschwinden, unergründlicher Sehnsucht und gehörig skurrilen und herzbewegenden Vorfällen zeugen. Beka Khoshtaria hat dazu im Band enthaltene Zeichnungen von poetischer Prägnanz angefertigt, eigenwillig durchdringend, fantastisch-menschlich.

 

Evelyn Bubich, geboren 1988 in Klagenfurt, studierte Komparatistik, Digital Media Publishing und Kommunikationsmanagement; Autorin, Lektorin, Literaturvermittlerin; Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Tageszeitungen und Anthologien sowie im Freien Radio; Literatur-Performances und genreübergreifende Arbeiten; Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift Podium, Vorstandsmitglied der IG Autorinnen Autoren; lebt in Wien.
Homepage von Evelyn Bubich

Simon Chkheidze Als die Sonne versank
Kurzgeschichten, mit Zeichnungen von Beka Khoshtaria.
Innsbruck: edition laurin, 2024
72 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-903539-37-2.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor

Rezension vom 30.04.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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