#Prosa

Alphaversionen

Liesl Ujvary

// Rezension von Günter Vallaster

Alphaversionen ist nicht nur ProgrammiererInnen ein vertrautes Wort für „frühe Testversionen, an denen noch gearbeitet wird“, wie es in der Bedeutungserläuterung am Beginn des Bandes heißt. In einen literarischen Kontext gestellt, regt es dazu an, weitere semantische Ebenen auszuloten: Bezieht sich „Alpha“ auf die Buchstaben, das Alphabet, „Versionen“ auf Variationen, Brechungen? Vom ersten Satz an ist indes klar, dass die Computerwelt den Kontext absteckt. Die Buchstaben, auf die der Textstrom zuläuft, sind I, C und H, es geht ums Ich und dessen Strukturierung und Generierung, Programmierung und Manipulation, womit das Terrain der anspruchsvollen Science-Fiction betreten ist: beleuchtet und vorgeführt wird das künstliche Ich.

Genauer gesagt ist es der Entstehungsprozess, der zum „Artificial I“ führt, der festgehalten wird. Nicht an einem Erzählfaden baumelnd, sondern in kleinen, durchnummerierten Häppchen treten direkt und dokumentarisch die Alphaversionen in Erscheinung. Dabei handelt es sich um „Blöcke von Segmenten des Nervenflusses, die in den Bereich des wahrnehmbaren treten und beobachtet werden können“ (S. 6) und damit an die Partitionen einer Computerfestplatte erinnern. Der Nummernverlauf oszilliert und ist übers Buch gesehen absteigend, vielleicht folgt er irgendeinem opaken Algorithmus, eher aber repräsentiert er aleatorisch aus einem Datenwust gezogene oder übriggebliebene Informationseinheiten, die wie Logbuch- oder Tagebucheinträge wirken, aus dem Tagebuch eines Countdowns. Der sehr persönliche Stil verstärkt den Eindruck eines Diariums, das Ich, das sich ausspricht und sich laufend unter Schmerzen verändert und Machtinteressen gefügig gemacht wird, ist das einer Forscherin, die mit dieser Forschungsarbeit über das menschliche Bewusstsein beschäftigt ist und die im Selbstversuch das Ich-Programm testet oder an der es getestet wird. Oder ist es schon eine Maschine, die sich plötzlich daran erinnert, ein Mensch zu sein? Stationiert ist die Bewusstseinsforschung an geheimen und entlegenen Orten, die – Google Earth lässt grüßen – ständig und schnell wechseln: mal die „sibirische Steppe“ (S. 15), mal Wald, mal eine Ruinenlandschaft, mal Bergkuppen, mal „stachelige Yuccapalmen“ (S. 63) mit Klapperschlangen und Skorpionen, mal eine „unbarmherzige Stadtlandschaft“ (S. 67), mal „sieht es nach einer Oase mit Palmen, Tennisplätzen und grossen Swimmingpools aus“ (S. 65) – oder wechselt hier laufend die Filmdatei oder der Bildschirmhintergrund? Wechseln die Bilder im Kopf? „Egal. Lausche den Wellen. Du lebst in der Kommandosoftware“ (S. 69).

Was hier entsteht, ist kein wie auch immer geartetes „höheres“ oder „besseres“ Ich, auch kein Cyborg-Golem wie der Terminator T-800, der es als platter muskelbepackter Blechtrottel gerade einmal zu einem „hasta la vista, baby“ bringt, sondern ein ganz normales Allerwelts-Ich in all seiner Komplexität, das aber systemtreu und militärisch gehorsam funktioniert, auf Knopfdruck. Spätestens seit William Gibsons Kultroman Neuromancer und dem Spielfilm Matrix ist die Vorstellung, dass die Welt Computerprogrammen folgt, Mainstream. Aber anders als in vielen Splatter-Sci-Fis entwickelt das Cyborg-Ich in Alphaversionen ein starkes emotionales Wissen und seine Gefühlswelt wird wissenschaftlich akribisch herausgearbeitet und nachgezeichnet, einschließlich der Frage, wie Gefühle programmiert sind und werden können. Das klingt in allen Sequenzen des Buches an und dieses Ich hält auch immer eine Erzähler- und damit Beobachterdistanz zu den Abläufen, mit denen es konfrontiert wird, die es in einem sachlichen, manchmal von saloppem wissenschaftlichem Laborjargon getragenen Duktus mit Wertungen und Beschreibungen der inneren Zustände füllt. Viele Sätze tragen Trench-Coat, wie Eddie Constantine als Lemmy Caution im Godard-Film Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution, in dem eine Stadt von einem Computer („Alpha 60“) beherrscht wird. Und Fluchtpläne werden gehegt: „729 Ich versuche mir die Tränen wegzuwischen, reibe mir dabei aber nur Schmutz in die Augen. Ich fange abermals an zu weinen. Überleg einmal wie du rauskommst, wie du wirklich rauskommst“ (S. 55). Oder ist es schon die Distanz der Maschine zum Menschsein?

Liesl Ujvarys Texte gehen immer viele Schritte über konventionelle Erzählschemata hinaus, da gibt es kein Schiffchen, auf dem sich die Figuren tummeln und das sich zum Schluss, einen behaglichen Textteppich hinterlassend, mit dem Namen „Ende“ zu erkennen gibt. Die Erzählperspektive ist vielmehr die einer Sonde, die als Raumkapsel in die Hirnkapsel taucht, an Bord sind ganze Bibliotheksabteilungen: Von der Kybernetik über Informatik bis zur Modelltheorie und vor allem Memetik spannt sich Mem für Mem, also „Kultur-Gen“ für „Kultur-Gen“ ein Netz auf, in dem sich das Ich verfängt, zu verändern beginnt, aus dem es schließlich entkommen will. Ein höchst schwieriges Unterfangen, denn „memische Toxine erfordern keinen physischen Kontakt. Sie verbergen die Wahrheit vor uns“ (S. 60). Physisch ist es ein Netz aus Kabeln und Anschlüssen, über die biotechnische Versuche durchgeführt werden, jede „Alphaversion“ ist somit auch ein Ergebnisprotokoll einer Versuchsreihe, zumindest ein Teil oder ein Ausschnitt daraus. Auf atemberaubende Weise verweben sich Wissenschaft und Fiktion und an jeder Stelle wird deutlich, dass die Fiktion keine weit hergeholte ist, sie ist beklemmend nah.

In den beiden längeren Einschüben „Translator 01“ und „Translator 02“ wird das Ich-Programm draußen in der Welt erprobt – draußen in der Welt, das heißt am Kriegsschauplatz, auf dem Schlachtfeld: „Ich sehe etwas Glitzerndes auf mein Gesicht zufliegen, werde nach hinten geschleudert, Schwärze“ (S. 37). Der Bioroboter ist auf Empfang gestellt, Befehlsempfang, in einer apokalyptischen Szenerie mit fraktalen Landschaften und Lichtblitzen, die über den Himmel jagen, führt der Feldzug in „Translator 01“, durchsetzt von traumartigen, psychedelischen Bildern („Ein schwarzes Fenster öffnet sich. Die Nahaufnahme eines schlafenden Gesichts“, S. 44) vorbei an einer Fabrik, in der „ein künstliches Wesen entsteht“ (S. 42), und endet in einem Gefühl des Verfolgtseins, was zu Systemausfällen führt. In „Translator 02“ funktioniert das Ein- und Ausschalten des Bewusstseins schon ein bisschen besser, zugleich werden die Fragen und die Zweifel deutlicher: „Ich halte mich im Hintergrund, ich habe nichts mehr zu bieten – meine beste Idee gehört euch schon“ (S. 92). Im letzten Abschnitt, „Alte Fronten“, nähert sich der Countdown 0. Oder 1. Die Forscherin ist aus dem von ihr entscheidend mitgeprägten System ausgebrochen, plant, auf sich allein zurückgeworfen, die Rettung. Sie versucht, in das System, das kaum jemand so genau kennt wie sie, einzudringen, es umzucodieren, und…

Die weiteren Schritte werden hier nicht genannt. Um an sie zu kommen, müssen Hände und Augen an die Mensch-Buch-Schnittstelle, das Text-Interface Alphaversionen angeschlossen werden, als Beitrag zur Befreiung der Hände, zum Öffnen der Augen, wider die Marionettisierung.

Alphaversionen.
Prosa.
Wien: Sonderzahl, 2006.
128 Seiten, broschiert.
ISBN 3-85449-256-1.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 18.07.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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