#Roman
#Debüt

Alles was glänzt

Marie Gamillscheg

// Rezension von Angelo Algieri

Ein Spalt auf dem Abbauberg bedroht einen namenlosen Ort. Über diesen Riss hat ca. 15 Jahre davor ein Journalist berichtet; der Ort werde in ein paar Jahren unter Geröll verschwunden sein, so seine Prophezeiung. Darauf „sind viele in die Stadt gezogen und Susa vermietet ihre Zimmer dauerhaft zum Nebensaisonpreis“. Der Ort wird nur von wenigen Personen weiter bewohnt, ab und an verirrt sich ein Tourist, um auf den umliegenden Bergen zu wandern.

Marie Gamillscheg schildert in ihrem Romandebüt Alles was glänzt (Luchterhand) neben den natürlichen auch gesellschaftliche Risse, in denen sich Abgründe auftun. Die im Jahr 1992 in Graz geborene Schriftstellerin, die mittlerweile in Berlin als Journalistin arbeitet, dürfte aus ihrer heimatlichen Region die Berge kennen, in denen Eisenerz abgebaut wird, etwa den steirischen Erzberg. Denn um einen ähnlichen „Eisenerz-Berg“ geht es in Gamillschegs Text. Samt den widerständigen, übriggebliebenen Ortseinwohnern am Fuße des Berges.

Da hätten wir Susa, die die ESPRESSO-Café-Bar leitet und der soziale Treffpunkt der Verbliebenen im Ort ist. Dort treffen sich die Protagonisten Merih und Wenisch regelmäßig, um etwas zu trinken. Regionalmanager Merih hat sich für einen Sommer – die Erzählzeit des Romans – bei Susa einquartiert. Er ist beauftragt, der Bevölkerung Fördermittel und Anreize anzubieten, um aus den bedrohten Ortsteilen und Siedlungen in den geschützten Ortskern umzuziehen. Dabei soll auch der Tourismus angekurbelt und das Bergbau-Museum wieder aktiviert werden.
Im Mittelpunkt des Romans steht auch die Heranwachsende Teresa, die gerne in die namenlose Stadt (man könnte sich hier ohne Weiteres Graz oder Leoben vorstellen) umziehen, besser: fliehen möchte. Doch ehe sie diesen Schritt vollzieht, kommt ihr die ältere Schwester Esther zuvor. Ihre Schwester ist in Trauer, da ihr Freund Martin Anfang des Sommers bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Um ein imaginäres familiäres Gleichgewicht zu wahren, bleibt Teresa weiterhin im Ort. Doch der Drang wegzuziehen ist am Ende des Sommers unermesslich groß.

Alle Hauptfiguren eint, dass sie seelische Verletzungen durch Schicksalsschläge erfahren haben. Es zeigen sich Risse im sozialen Umgang – wie beim Abbauberg. Susa hat, ähnlich wie Esther, ihren Mann durch Suizid verloren; Wenisch vermisst seine Tochter, die weit weg wohnt; Teresa gerät aus dem Lot, weil ihre Schwester nicht mehr im Ort lebt; und Merih wurde von seiner Freundin verlassen. Alle Protagonisten verlieren somit ihre Liebsten. Um in der Abbauberg-Metapher zu bleiben: Sie verlieren alle etwas Kostbares, sie verlieren das wertvolle „Erz“, das sie bis dahin am Leben hält. Übrig bleiben seelische Löcher, Höhlen, Schächte, notdürftig durch Oberflächlichkeiten, Lügen, Verleugnungen abgedeckt. Im Laufe des Sommers werden allerlei Verwerfungen sichtbar: Auf den Vorwurf Esthers bei einem Dorffest, dass die Verbliebenen Schuld am Tod von Martin seien („Umgebracht habt ihr ihn! Und jetzt ist er tot!“), reagiert niemand. Als die Tochter von Wenisch sich um ihren Vater kümmert, weil er vorübergehend pflegebedürftig ist, zeigt sich, wie gestört die Kommunikation zwischen beiden verläuft. Schwelende Aggressionen werden um des lieben Friedens willen nicht offen ausgetragen. Im Gegenteil: Gräben werden schweigend weiter vertieft.

Allerdings zeichnet Gamillscheg bei ihren Tiefenbohrungen in die menschliche Seele nicht nur ein negatives Bild. Sondern sie zeigt, wie die Protagonisten mit ihren Verletzungen umgehen, wie sie daraus Kraft schöpfen, sich emanzipieren, gar, ohne zynisch zu werden, eine Art Schönheit darin entdecken. Denn in den Schächten des Abbauberges und der menschlichen Seele glitzern immer noch Reste des Erzes, wenn man tief hineinleuchtet. Esther zieht erleichtert in die Stadt um, Susa hat ihr Lokal und bleibt für Wenisch gerade in ihrer Verletzbarkeit schön, Merih entdeckt seine Unabhängigkeit und wirkt auf andere nun anziehend (der Trennungsgrund seiner Ex, dass er eine uninteressante Person sei, hebt sich auf). Teresa hingegen emanzipiert sich durch einen ‚Unfall‘ von ihrem Klavier, der Deckel zerquetscht ihre Finger, sodass sie das ungeliebte Instrument nicht mehr spielen kann.

Selbst im Stil spiegelt sich der Abbau des Kostbaren wider: Gamillscheg schreibt folgerichtig lakonisch und aussparend, fern jeglicher Emotion. Als hätte man die Gefühle zuvor entnommen, von ihnen bleiben lediglich Spuren, Andeutungen. Der Text erhält dadurch eine faszinierende Strahlkraft.
Fazit: Gamillscheg zeigt mit ihrem dramaturgisch fein austarierten Text Alles was glänzt, wie nach einem Verlust das verborgene Glänzen in einem Menschen anders und sogar stärker leuchten kann.

Marie Gamillscheg Alles was glänzt
Roman.
München: Literaturverlag, 2018.
224 S.; geb.
ISBN 978-3-630-87561-3.

Rezension vom 20.03.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.