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Alles und nichts sagen

Eva Menasse

// Rezension von Judith Leister

Von digitalen Gladiatorenkämpfen und Online-Prangern

Wer in den 1970er- und 80er-Jahren aufgewachsen ist, der mag sich noch an die gepflegte Langeweile an Sonntagnachmittagen erinnern. Man besuchte die nähere Verwandtschaft zu Kaffee und Kuchen, schrieb der entfernteren einen Brief, schaute gemeinsam mit der halben Nation Wiederholungen von Hans-Moser-Filmen auf ORF2, weil es sonst nichts gab im TV, oder las ein Buch. So war das, bevor es das Internet und die sozialen Medien gab – naja, wenigstens ein bisschen …

 

Wie anders es jetzt ist, das hat die Österreicherin und Wahlberlinerin Eva Menasse, die ebenfalls in diesen vergleichsweise unaufgeregten 70er- und 80er-Jahren aufgewachsen ist, in ihrem Buch Alles und nichts sagen. Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne untersucht. Wie steht es also um den modernen Diskurs, das Sprechen unter den Bedingungen von Klicks und Likes? Der Mensch, das „langsame Säugetier“, habe inzwischen mehrere Stufen der Beschleunigung durchlaufen, konstatiert Menasse. Und schon im Zeitalter der Dampflok warnte die Medizin zu Unrecht vor unheilvollen Folgen wie gequetschten Organen infolge der unnatürlich hohen Geschwindigkeit. Doch im Fall des Internets seien die Folgen weitaus umfassender, meint Menasse. Wie die Bezeichnung „Netz“ andeutet, sind wir alle ihrer Ansicht nach bereits so fest eingesponnen in das World Wide Web und die sozialen Medien, dass eine kritische Distanz schwierig geworden ist. Die digitale Massenkommunikation sei uns längst zur zweiten Natur geworden.

In einem kleinen Exkurs geht Menasse darauf ein, dass es vor dem Internetzeitalter nur das mündliche Gespräch und den Brief gegeben habe, wenn man zum Beispiel jemand anderem seine Gefühle mitteilen wollte. Im Gespräch, so sagt sie, zügele man zum Beispiel seine Wut eher, weil die andere Person anwesend ist und unmittelbar auf das Gesagte reagiert. Beim Brief, so Menasse, habe das Schreiben auf Papier und der Postweg den Kommunikationsprozess verlangsamt, und damit einen „Airbag aus Zeit“ geschaffen. Mancher Brief wurde dann eben doch nicht abgeschickt, weil die Wut inzwischen verraucht war oder, so könnte man hinzufügen, die romantischen Gefühle als peinlich empfunden wurden. Bei der digitalen Kommunikation gibt es diesen Zeitverzögerungseffekt nicht. Stattdessen regiere nun ein affektgetriebenes „giftiges Hybrid“, auch deshalb, weil die gemeinte Person weit weg oder einem gar nicht persönlich bekannt sei. Das Ergebnis der mangelnden Impulskontrolle seien die Hasstiraden im Cyberspace. Das Phänomen hat auch einen Namen: „online disinhibition effect“.

Menasse sieht jedoch nicht nur beim gesellschaftlichen Tempo einen tiefgreifenden Wandel. Auch die Raumvorstellungen hätten sich verändert. So sprach der Philosoph Peter Sloterdijk noch vom „Diskretionsabstand“, der durch Geographie hergestellt werde. Wie sehr dieser Abstand zusammengeschmolzen ist, konnte man an den Ereignissen nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 in Israel sehen – die in Menasses Buch zeitlich nicht mehr erfasst sind. In den sozialen Medien tauchten sofort nach den Untaten Videos der Opfer und Überlebenden des angegriffenen Nova-Festivals in der Negev-Wüste auf, ebenso wie Bilder von den Bodycams der Terroristen, die von der Nutzerschaft aus aller Welt bearbeitetet, mit Musik und Parolen unterlegt, und als antiisraelische Propagandaclips massenhaft weiterverbreitet wurden. Parallel dazu ging in Berlin, London, Paris, Brüssel und Washington, aber auch im Irak und Iran, in Ägypten, Bangladesch, Jordanien, Pakistan und Syrien die Pro-Hamas-Anhängerschaft auf die Straße, Personen, die in der Realität wahrscheinlich viel weniger gemeinsam haben, als sie selbst glauben.

Dass Handlungen im Internet reale Folgen zeitigen können, habe sich schon in Corona-Zeiten gezeigt, so Menasse. In einem historischen Augenblick, in dem kaum noch jemand sich an reale Seuchen erinnert, outeten sich immer mehr Menschen als Impfgegner. Die wachsende Impfskepsis sei auch auf viele Eltern übergegangen, die ihre Kinder nun grundsätzlich nicht mehr impfen lassen wollen. Verschwörungstheorien gehören aber nicht nur zu Corona. So stürmte in den USA ein Bewaffneter eine Pizzeria, weil er glaubte, den Ort gefunden zu haben, an dem Hillary Clinton und andere Demokraten, aber auch der Schauspieler Tom Hanks einen Kinderpornoring betreiben. Man darf hinzufügen: Aus der „Pizzagate“-Theorie ging später die Gruppierung QAnon hervor, die per Internet das Gerücht von einer satanistischen Sekte verbreiteten, die sich mittels Kinderblut verjünge – ein klarer Rekurs auf jahrhundertealte antijüdische Ritualmordvorwürfe.

Doch man muss nicht auf Extremereignisse und -theorien blicken, um mit Menasse festzustellen, dass es heute eine „erbarmungslose Digitalmoderne“ gibt, „die nichts vergessen und alles verdrehen kann“. Immer mehr Intellektuelle würden auf einmal als „problematisch“ und „umstritten“ eingestuft. Auf den entsprechenden Seiten scheut man sich nicht, Menschen, die durchaus ein Lebenswerk vorzuweisen haben, wegen einer einzigen Äußerung zu diskreditieren. Dem entsprechen verkürzte, auf Schlagworte reduzierte Debatten, die von den Algorithmen belohnt werden, weil sie dafür programmiert wurden. Die römischen „Gladiatorenkämpfe“ und die Menschenhatz, der Mob und der mittelalterliche Pranger seien wieder da, beobachtet Menasse, nur eben im virtuellen Raum, was nicht ohne Einfluss auf Politik, Medien und sogar Gerichte bleiben könne. Durch das ständige Spektakel würde das Vertrauen in staatliche und wissenschaftliche Institutionen nachhaltig unterwandert. Mit einigen Zeitgenossen könne man sich schon nicht einmal mehr auf die Fakten einigen.

Interessanterweise, so Menasse, seien digitale Massenbewegungen auch schnell wieder verschwunden, wie nach dem Brexit in Großbritannien oder bei den Gelbwestenprotesten in Frankreich. Und im Nachhinein sei niemand für Fehlentwicklungen und den entstandenen Schaden verantwortlich. Ähnlich sieht es, könnte man ergänzen, bei den Pro-Hamas-Aufmärschen nach dem 7. Oktober in Deutschland aus. Nicht ein einziger Name von individuellen Hintermännern oder Organisatoren der Demonstrationen, kein einziges Gesicht, ist bislang in der Presse aufgetaucht.

Obwohl die sozialen Medien den Proklamationen ihrer Schöpfer zufolge dazu geschaffen wurden, Personen miteinander zu vernetzen, würden sie in Wirklichkeit Freundschaften „kapitalisieren“, so Menasse. Für diese These spricht, dass heute besonders unter selbstverständlich voll vernetzten, jungen Menschen große Einsamkeit herrscht, wie Umfragen zeigen. Auch der Anspruch der Internet-Gründergeneration, mit den sozialen Medien eine Art Agora oder Forum Romanum für demokratische Prozesse bereitzustellen, sei kläglich gescheitert, unterstreicht Menasse. Das Gegenteil sei eingetreten: „Hass, Mobbing und digitales Stalking sind zu akzeptierten Umgangsformen geworden.“

Die Autorin teilt durchaus in alle Richtungen aus. Ihrer Ansicht nach hat etwa der Kampf gegen Rassismus in den USA längst religiöse Züge angenommen. In diesem Kontext zitiert sie den Linguistik-Professor und schwarzen US-Amerikaner John McWhorter, der folgendes Verhalten kritisiert: „Erwählte Weiße fingen damit an, bei den Protesten nach dem Mord an George Floyd auf die Knie zu gehen, um ihre allgemeine Wokeness zu bezeugen.“ Menasse findet es generell bevormundend, sich im Namen anderer zu Wort zu melden, aber „es verleiht moralisch Flügel“.

Eva Menasses pessimistischer Essay ist durchweg anregend, wenn auch gelegentlich etwas unsystematisch. Dankenswerterweise hat die Autorin auch unkonventionelle Buchtipps und Hinweise auf wissenschaftliche Beiträge zum Thema integriert. Neben John McWhorters Die Erwählten – wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet“ (dt. Übers. bei Hoffmann und Campe, 2022) erwähnt sie unter anderem auch einen Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Albrecht Koschorke (Identität, Vulnerabilität & Ressentiment. Positionskämpfe in den Mittelschichten, 2021) über die heutigen Identitätskonstruktionen. Ebenfalls empfiehlt sie Kay Dicks Roman They – a Sequence of Unease (1977), der erst 2022 unter dem Titel Sie – Szenen des Unbehagens (Hoffmann und Campe) ins Deutsche übertragen wurde. In der dystopischen Story geht es um eine namenlose Organisation, die gegen Kunst und Künstler vorgeht und dabei eine diffuse Angst in der Gesellschaft verbreitet. Was aber zu tun wäre, um die digitale Welt zu bändigen und zu demokratisieren – diese Antwort bleibt Eva Menasse schuldig.

 

Judith Leister lebt in München. Nach dem Studium der Literaturwissenschaften in München und Berlin ist sie heute als freie Journalistin vor allem für die Neue Zürcher Zeitung und den Deutschlandfunk tätig.

Eva Menasse Alles und nichts sagen. Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne.
Essay.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023.
192 Seiten, gebunden.
ISBN: 978-3-462-00059-7.

Verlagsseite mit Informationen zu Autorin und Buch

Rezension vom 16.01.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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